Wenn das Schicksal schon am Morgen zuschlägt

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"Ich weiß, was du meinst... und ich weiß es nicht." Don schaut mich schief an. "Du weißt, aber du weißt es nicht?" "Ich weiß, was du meinst. Du willst keine Nachbesprechung machen, sondern es geht dir um die Übung. Aber ich weiß nicht ob das was für mich ist.", meine Stimme stockt. "Warum?" 
Ich komme ins hadern. Mir fällt kein guter Grund ein es nicht zu tun, außer.. "Ich kann nicht schauspielern." Blöder Gedanke Jessy. Ganz blöder Gedanke. "Das sehe ich aber anders. Schließlich habe ich dich bei den Schülern gesehen.", Don tritt näher. "Ich würde es wirklich begrüßen, wenn du es tust. Wir brauchen jemanden, der die Sache kennt und echt auf die Medikation reagieren kann. Und du musst zugeben, dass es gerade dir verdammt gut tun würde."
Ich tue unschuldig: "Weil?" Dons Augen funkeln. "Weil ich dir nicht glaube, dass du auf dich achtest, du dort wirklich mal ordentlich gecheckt wirst und dann vielleicht endlich deine Angst vergisst!!" Was soll ich darauf antworten. Statt einer Antwort schicke ich ein Stoßgebet nach oben 'Bitte lass den Melder klingeln!'. Klappt diesmal leider nicht. 

"Also?" Don tippt mit dem Fuß auf den Boden. "Du hast gesagt ich habe bis heute Abend Zeit... Bitte... ich brauch einfach noch einen Moment." "19Uhr im NEF, wenn wir dann nicht im Einsatz sind. Ich treffe dich dort.", Dons Gesichtszüge entspannen sich etwas. "Und jetzt besorg dir was Richtiges zum Frühstück, denn ich glaube nicht, dass du Zuhause etwas gegessen hast."
"Erwischt. Aber dazu müssen wir einkaufen fahren."

Halbwegs milde gestimmt steigt er tatsächlich ins NEF ein und wir fahren zum nahegelegenen Supermarkt. (Solange kein Einsatz reinkommt und wir in der Nähe der Wache bleiben, ist das bei uns geduldet.)
Don achtet nicht darauf, was ich einkaufe und so landen Obst, eine Packung Tortellini, ein Glas Bolognese und Quark in meiner Einkaufstüte. Zurück an der Wache ziehe ich dem Frühstück dennoch die Mails vor. Dienst ist Dienst und hat Priorität. Eine weile scrolle ich durch einige Weiterleitungen und Infopost.
Eine weitergeleitete Mail von Don lässt mich aufmerksamer werden, der Betreff nichts gutes ahnen.

Betreff: Übung: Polytraumaversorgung mit Schockraumübergabe

Liebe Kollegen,
Wie bereits in der letzten Sitzung besprochen ist es mal wieder an der Zeit für einen Leistungstest. Diesen haben wir, ebenfalls besprochen, auf  Mittwoch den 8. August um 13Uhr datiert. Hierzu gibt es nun folgendes Szenario. Dies bitte an die Schauspieler/-in weiterleiten:

Patient/-in Anfang 20, Zustand nach Verkehrsunfall, Fahrrad gegen LKW
A: Akute Schmerzen HWS = Cervikalstütze
B: Aufgehobenes Atemgeräusch Rechtsseitig, SpO2 70%, starke Atemnot und Schmerzen
C: RR 80/50mmHg, Puls 130bpm, EKG unauffällig
D: Somnolent/Eingetrübt, im Verlauf nicht mehr ansprechbar, Pupille rechts größer links, BZ 100mg/dl
E: Rippenserienfraktur rechts, Unterarmfraktur rechts, Platzwunde Stirn rechts, Schürfungen Ganzkörper

Weitere Anamnese je nach Darsteller real. Komplikationen können spontan besprochen werden.

Die medizinische Versorgung präklinisch wird von der Rettungswache Mitte sichergestellt, anzufahren ist das Klinikum Nord. 
Alles weitere bei unserem letzten Treffen mit Darsteller/-in am Montag.

Liebe Grüße
Klinikleitung Nord


Heilige Dreifaltigkeit, Herrgott ich flehe dich an, warum ich? Da ist ja das volle Programm... Von Zugang über Narkose bis hin zur simulierten Thoraxdrainage. Zwar ist es keine echte Narkose aber... oh scheiße. Und Mittwoch der 8. ist schon in 4 Tagen.
Ganz kurz steigt Panik in mir auf. Aber Jessy: nicht hier und nicht jetzt... Ich bin an der Wache. Keine Patientin. Ich sitze am PC, und liege nicht auf der Straße. Und ich gehe jetzt frühstücken und vergesse ganz schnell, was ich da gelesen habe... 
Ich schließe das Email-Fenster, sperre meinen Nutzer-Account und atme einmal ganz tief durch. Dann stehe ich auf und gehe in die Küche. An dem mich unschuldig anlächelnden Don schiebe ich mich wortlos vorbei. Jede Wette, er hat gespickt, ob ich diese Mail auch lese. 
Seufzend lass ich mich mit einer Banane in der Hand auf einen freien Stuhl plumpsen und suche in der Zeitung irgendetwas interessantes. Doch die Gedanken kreisen immer nur um das eine... Soll ich? Soll ich nicht? Soll ich? Ich will ja aber nein ich will nicht. 
Insgeheim suche ich mein Horoskop. Bei Stier steht: *Manche Entscheidungen sollten nicht auf die lange Bank geschoben werden. Kurz und schmerzlos ist hier das Zauberwort.*

"Drecksding", entfährt es mir zickig. Don schaut auf und ich verstecke mich hinter meinen Haaren und starre auf irgendeinen Artikel. "Wenn du mit Drecksding den Artikel über Gülle als Biodünger meinst, den du da anstarrst, kann ich dir wortwörtlich zustimmen.", Don kommt neben mich. 
Mein Sternzeichen flammt auf, die Zicke erwacht und in einem kurzen Moment des Mutes entfährt mir ein Satz, den ich die nächste Woche bitter bereuen werde: "Also schön. Wenn in den nächsten 10 Sekunden der Melder geht, mach ich bei dieser Übung mit!!"

Kaum gesagt, schon bereut. Das Schicksal fickt mich heute schon am frühen morgen. Vom Piepsen des Melders zucke ich zusammen und starre das Ding an meinem Gürtel an als wäre es der verdammte Teufel persönlich. "Schön, dass du mitmachst. Sehr mutig von dir.", grinst Don mich an und fügt dann hinzu: "Kommst du? Oder muss ich mich selbst zur Einsatzstelle fahren?" 
Wenn ich ein Mensch des Fluchens wäre, würde ich es jetzt tun, aber stattdessen nehme ich es einfach hin. Das Schicksal hat entschieden.
Und zwar, dass ich jetzt ganz zügig zum Auto laufen sollte um hoffentlich wenigstens einen Menschen heute vor einem scheinbar besiegelten Schicksal zu bewahren...

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