1| Evangeline

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Mom hatte versucht, mich vor Eleanor Rae zu beschützen. Aus diesem Grund hatte ich im letzten Jahr drei verschiedene Therapeuten, zehn Yogastunden und acht Notizblöcke voll von meinen Gedanken gehabt. Nur, dass all der Aufwand nichts gebracht hatte und Elli für mich immer noch die wichtigste Person war, die ich jemals getroffen hatte. Ich liebte dieses Mädchen. Und der Ausdruck in ihren Augen, diese tiefe Enttäuschung, den sie mir zuletzt zugeworfen hatte, hatte sich in meine Gedanken eingebrannt. Noch nie in meinem Leben hatte ich etwas so sehr bereut.

Die Sonne schien quälend warm durch die Fensterscheibe des Wagens und ich schien in der Hitze des Juliwetters davon zu schmelzen. Wir waren bereits an siebenundneunzig Straßenlaternen und dreizehn Kuhweiden vorbei gefahren, immer zu in Richtung eines Ortes, den ich mit meinem ganzen Verstand hassen wollte. Ich lenkte den Blick vom Fenster ins Wageninnere, seufzte und sah zu meinen beiden Freundinnen, die an die jeweils andere gelehnt eingeschlafen waren. Durch den Rückspiegel warf mir Steffen, der Vater der beiden, einen aufmunternden Blick zu.

Doch Steffen kannte mich nicht. Die beiden Mädchen neben mir kannten mich nicht. Nur Elli hatte das getan.

Meine Freunde des letzten Ferienlagers waren bestimmt schon enttäuscht, dass ich noch nicht aufgetaucht war. Letztes Jahr noch hatte ich ihnen versprochen, ein letztes Mal wieder zurück zu kommen. Ein letztes Mal eine Woche lang Zeit mit ihnen zu verbringen und abends am Lagerfeuer den Gruselgeschichten der Anderen zu lauschen, bevor ich zu alt dafür wäre. Doch meine Mutter war anderer Meinung gewesen. Nach allem was passiert war, hatte sie darauf bestanden, dass ich auf eine Freizeit fahren sollte.

Doch da ich mich geweigert hatte, allein an diesen wildfremden Ort zu kommen, hatte ich Leona und Helen davon überzeugt, mit mir zu fahren. Ich war mit ihnen eigentlich nicht wirklich gut befreundet, doch Mom hätte mich nicht überzeugen können, eine Woche mit lauter Fremden zu verbringen. Und niemand anderen hatte ich davon überzeugen können. Vor allem, während meine Freundinnen aus meinem Ferienlager gerne mit mir Stockbrot gegessen hätten.

Eine halbe Stunde später trafen wir an dem Freizeitheim ein und ich versuchte, tief durch zu atmen. Die Woche musste einfach schnell vorüber gehen und schon müsste ich diese Leute hier nie wieder sehen. Nächste Woche wäre sowieso der ganze Trubel vorbei und ich wäre wieder ein freier Mensch.

Ich riskierte einen Blick auf das burgähnliche Gebäude. Die Steinmauern sahen sehr alt und abgenutzt aus. Der Efeu, der sich wohl einmal um die Türme des Gebäudes gewunden haben musste, erschien schon lange nicht mehr strahlend grün. Das einzig Moderne waren die Lampen, die an der Hauswand hingen. Noch einmal seufzte ich. Das alles war noch schlimmer, als ich mir es vorgestellt hatte.

Ich hievte meine Tasche aus dem Kofferraum und schleppte sie die steinerne Treppe bis zur Eingangstür hinauf. Die riesige Tür, vermutlich genauso alt wie die Mauern, stand weit geöffnet.

Ich lugte in den Eingangsbereich, der sich hinter den Türen offenbarte. Der Boden war von weiß gemusterten Kacheln bedeckt und die Wände schmückten Gemälde der Landschaft rund um die Jugendherberge. Auch einige Bilder von Ahnen, die wohl irgendwann im 17. Jahrhundert gelebt haben mussten, wie der Schriftzug darunter verriet, hingen an den Wänden. Ein junger Mann stand an die Wand gelehnt da und lächelte mir augenblicklich zu, als ich eintrat. Mir fielen zuerst seine langen, lockigen Haare auf, die er zu einem lockeren Pferdeschwanz im Nacken zusammengebunden hatte.

Er steckte in komplett schwarzer Kleidung, war barfuß und leider musste ich mir eingestehen, dass er mir damit sympathisch war. Seine Arme waren verschränkt und neben ihm war eine weitere, riesige Flügeltür. Ich zwang mir ein Lächeln auf das Gesicht, das vermutlich etwas schief geriet. In seinem Mundwinkel erschien ein Grinsen, als er sah, wie viel Lust ich auf das hier hatte. Er deutete auf die Tür und ich folgte der stummen Anweisung.

Was uns das Leben lehrte | LeseprobeWo Geschichten leben. Entdecke jetzt