"Soll ich dir den abnehmen?", fragt Alex, während er neben Emma herläuft.
Sie sieht ihn von der Seite an und nickt.
"Na dann, komm", fordert er sie auf und stellt sich hinter sie.Es braucht nur einen Moment und der Knoten ist gelöst, das Tuch fällt zu Boden und Emma spuckt das durchgeweichte Knäuel aus.
"Endlich", spricht sie ihren Gedanken laut aus und bewegt ihre Kiefermuskeln.
"Nicht wahr?", fragt Alex und tritt wieder neben sie.
Sie sieht ihn aus funkelnden Augen an und bevor sie weiß was sie tut, rammt sie ihn mit ihrer Schulter.
Überraschung steht in seinem Blick, als er zurückstolpert. Kurz wirkt es so, als verliere er sein Gleichgewicht, doch er fängt sich und sieht Emma fassungslos an.Diese steht laut keuchend vor ihm und sie ist sicher, wäre sie nicht gefesselt, würde sie ihn prügeln.
"Wie konntest du nur?", zischt sie, während die Wut sich wie Lava heiß durch ihre Adern brennt, "Wie konntest du mir das nur antun?!"
"Mir blieb nichts anderes übrig, Emma", haucht er und bringt sie mit seinen Worten dazu den Kopf zu schütteln.
"Sag das nicht. Wag es nicht mein Herz ansprechen zu wollen. Du hast mich geopfert, als du die Lügen verbreitet hast und du hast mich verraten, als du zu mir kamst und anstatt mich zu befreien, bist du gegangen."
Mit jedem Wort wird ihre Stimme lauter.
"Dich zu befreien wäre ein Versuch gewesen, bei dem es geblieben wäre, Emma. Ein Versuch, der scheitert."
"Es wäre ehrlich gewesen", erwidert Emma verletzt, "Ich kam genau deswegen zurück."Alex schubst sie so plötzlich, dass sie nun Mühe hat das Gleichgewicht zu behalten.
"Und was hat es dir gebracht? Sieh dich an!"
"Nichts, aber darum geht es nicht."
"Nicht, worum geht es denn dann? Warum etwas versuchen, wenn das Ergebnis absehbar ist?", fragt Alex wütend.
"Weil genau dieses Verhalten für Veränderung sorgt, Alex. Wenn man nichts versucht, wird man im Leben auch nie etwas gewinnen.""Ich sagte es dir bereits. Ich bin für dich nicht bereit alles aufzugeben. Als ich es versuchte, da merkte ich, dass ich es nicht will."
"Was gibst du denn auf? Ein Dorf, das dich unterdrückt?", fragt Emma laut und würde am liebsten ihre Hände Luft werfen, um ihr Unverständnis zu verdeutlichen."Nein, das ist mir egal", antwortet Alex leise.
"Was ist es dann, Alex? Was willst du nicht aufgeben?""Mich!", ertönt plötzlich eine Stimme.
Emma wirbelt erschrocken herum und erblickt einen Mann aus dem Gebüsch treten.
Sie stolpert zurück, bis sie gegen Alex stößt, der prompt ihre Oberarme umfasst.
"Mich... Er möchte mich nicht aufgeben", fügt der Mann hinzu.Emma blickt zu Alex empor, während sie versucht sich aus seinem Griff zu befreien.
Erneut erlebt sie ein Dejavue, nur dass Alex dieses Mal nicht vor ihr auf einer Bank sitzt, sondern hinter ihr steht, während er ihre Arme schmerzhaft umgreift.
Jeder Versuch sich zu befreien bleibt erfolglos und so kommt Emma nicht umhin den Fremden näher zu betrachten."Gefällt dir, was du siehst?", fragt dieser und lächelt.
"Oh mein Gott", haucht sie, als er auf sie zutritt.
"Nicht ganz", erwidert der Mann amüsiert, "Aber du kannst mich Friedrich nennen, wenn du das möchtest."
Emma lässt ihren Blick an ihm empor schweifen, bis er an seinem Gesicht hängen bleibt.
Ihr Mund formt sich zu einem stummen O, als sie seine Haare, Augen und Gesichtszüge betrachtet.
"Ihr seid verwandt", stellt sie fassungslos fest und blickt erneut zu Alex empor, dieses Mal mit einer Frage in ihren Zügen.Vor ihr steht ein Mann, der etwa Anfang 30 ist.
Genau wie bei Alex umranden dessen Gesicht braune Haare mit genau dem gleichen Farbton. Wie Alex hat der Fremde, Friedrich, grüne Augen, nur sind seine ein wenig heller. Doch am auffälligsten sind die Gesichtszüge, die sich mit Alex' gleichen, als seien sie..."Brüder", murmelt sie und kann es nicht fassen.
"Du hast eine gute Auffassungsgabe", beantwortet Friedrich ihr Gemurmel.
"Ich wusste nicht, dass du...", flüstert Emma und blickt zu Alex empor.
"Du weißt einiges nicht über ihn", unterbricht der Friedrich sie süffisant und sagt daraufhin zu Alex, "Ich fragte mich, wo du bleibst. Die anderen werden langsam ungeduldig."
"Hättest du nicht jemanden schicken können? Musstest du selbst herkommen?", fragt Alex.
"Hätte ich, aber dann hätte ich einiges verpasst. Euer Gespräch war recht spannend. Nun kommt, ich habe einige hungrige Mäuler zu stopfen."Und mit diesen Worten setzt sich Alex in Bewegung und egal, wie sehr sie versucht sich zu befreien, er zieht sie mit.
~•~
Sie kommen an einer Höhle an, vor der drei Männer an einem Tisch sitzen und sich gegenseitig mit ihren Krügen zu prosten.
Tiefes Gelächter weht zu Emma hinüber, als sie gezwungenermaßen die Szenerie betritt."Alex!", ruft einer von ihnen, als sie näher kommen und springt auf. Ein hagerer Junge, der in Alex Alter sein dürfte und ein riesiges Lachen im Gesicht hat, kommt auf sie zugelaufen.
"Endlich bist du hier", sagt er im freundschaftlichen Tonfall und legt Alex einen Arm über die Schulter, während er Emma völlig ignoriert.Sie versteht es nicht. Wusste nicht, dass Menschen so nah an ihrem Dorf leben. Was machen sie hier? Wer sind sie?
"Freust du dich wegen mir und wegen ihr?", fragt Alex skeptisch.
Der Junge sieht ihn enttäuscht an, "Wegen dir natürlich. Wenn du im Dorf bist, sehe ich dich so selten.""Alex, schlag da keine Wurzeln!", ruft Friedrich ihm herüber, während er sich auf die Bank zu den restlichen Männern setzt.
"Wir reden später", sagt Alex und nickt dem Jungen zu, ehe er sich mit Emma abwendet."Wer war das?", fragte Emma, als er sie wegführt.
"Ein Freund", antwortet er monoton, während sie die Höhle betreten.
"Alex, was hast du mir alles verschwiegen?", fragt Emma leise, "Du hast einen Bruder, einen Freund?"
"Friedrich hat es vorhin auf den Punkt gebracht. Du weißt einiges nicht von mir. Allein deswegen war unsere Flucht nie von Erfolg gekrönt."
Emma atmet zitternd ein, "Warum hast du mir dann nicht vertraut? Ich hätte alles über dich erfahren können und es wäre bei mir geblieben und du hättest bei mir bleiben können."Alex schweigt und zieht sie tiefer in die Höhle hinein.
In ihr flackert ein Feuer, umgeben von vier Schlafplätzen.
Der Schein der Flammen taucht die grauen Steinwände in ein warmes Licht.
Es könnte fast gemütlich sein, wäre da nicht die Kette an der Wand, auf die Alex mit ihr zusteuert und an der er ihre Fesseln festmacht."Es wäre nicht gegangen, Emma", sagt er währenddessen.
"Aber warum nicht? Ich vertraute dir auch alles an. Ich vertraute dir mein Leben an, als ich mich entschied mit dir zu gehen."
"Ich weiß, doch du würdest mich hassen", haucht Alex, sodass Emma sich nicht sicher ist, ob sie ihn richtig verstanden hat.
"Ich würde dich..."
Er unterbricht sie harsch: "Sprich nicht von Dingen, die du nicht verstehst."Emma schweigt und sieht zu wie Alex sich aufrichtet.
"Du wirst sie verstehen und ich entschuldige mich für alles, was ich je tat. Schon für den Moment, als ich dich im Dorf ansprach und wir einander kennenlernten.
"Alex", haucht Emma und spürt wie sich die Tränen in ihren Augen sammeln, "Was redest du da?"Er schüttelt nur den Kopf und lässt sie allein, allein in einer Höhle, umgeben von fremden Männern.
- Fortsetzung folgt -
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When the snow falls
ParanormalFernab der Zivilisation, versteckt in einem tiefen, endlosen Wald liegt ein kleines Dorf. Jedes Jahr, sobald der erste Schnee fällt, wird ein Mädchen erwählt, die zu sein, die diesem Ruhm und Reichtum einbringen soll. Dafür muss es das Dorf verlasse...