Kapitel 1

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Die eisigen Februar Winde zupften an Zara Senjadas dunklen Locken wie an den Flügeln der Raben, die sich weit über ihrem Kopf in den Himmel schraubten. Ein letztes Mal streckte sie die Nase in den Fahrtwind, schmeckte das Salz auf ihrer Zunge und lauschte dem Flattern der Segeltücher, bevor das alte Segelschiff im Hafen von Alcara einlief.

Dunkle Wellen rollten über das Ufer des westlichen Anlegers. Und während gedrungene Hafenarbeiter mit massigen Oberarmen die rauen Seile vertäuten, sodass der heftige Wellengang das Schiff nicht ungewollt auf die See hinaustreiben konnte, lehnte Zara sich weit über die Reling, um einen ersten Blick auf die Hauptstadt von Baros zu erhaschen.

Zu ihrer Linken krönten windschiefe Ziegeldächer einfach gemauerte Häuser, die sich dicht aneinanderdrängten und wie in einem Kartenhaus einander stützten. Kaum eine Straße war gepflastert, die Wege vor ihr waren übelriechende schlammige Pfade. Im Osten bildeten ordentliche Reihenhäuser mit kleinen Vorgärten und bunten Blumenkassetten den Kontrast zu dem Grau vor ihr. Dort waren die Straßen sauber und ordentlich mit hellen Steinen gepflastert. Und über all dem erhob sich aus dem Herzen der Stadt eine Kathedrale aus so schwarzem Holz, dass man von weitem glaubte, sie wäre verbrannt.

„Anker setzten!", befahl der Kapitän, der seine Position hinter dem Steuer verlassen hatte, um seine Männer und Passagiere von Bord zu scheuchen.

Zara schulterte daraufhin ihren Seesack, trat von der Reling zurück an der sie so viel Zeit in den letzten zwei Tagen verbracht hatte und stieg mit einem Dutzend Passagiere die rutschige Planke hinab.

Zara betrat zum ersten Mal das Festland, doch ihre Füße glaubten noch sich auf dem Meer zu befinden, da jeder Schritt schwach und wacklig war

„Sie laufen wie unsere Matrosen nach ihrem ersten Seegang, Hauptmann Senjada", lachte der erste Offizier und klopfte ihr herzlich auf die Schulter.

„Wann geht das vorbei?", fragte sie den ersten Offizier und verschwieg dabei, dass sie zuvor noch nie in ihrem Leben ein Schiff betreten hatte.

„Verschwindet in ein paar Stunden wieder."

Zara bedankte sich für den Rat, als er sich wieder abwandte und sie für ihn nichts weiter wurde als ein Gesicht von vielen. Es störte sie nicht einmal, dass man sie in einer fremden Stadt einfach stehen gelassen wurde. Denn alles woran Zara denken konnte war, dass man sie in einer Woche nur noch mit Captain ansprechen würde. Captain der Leibgarde von... Von wem eigentlich? Diese Frage hatte sie sich auf der Überfahrt von ihrer Heimatinsel aufs Festland so oft gestellt, da ein Name ihres zukünftigen Dienstherren ihr nicht bekannt war. Sie wurde lediglich mit ihren Versetzungspapieren und dem Befehl sich bei dem Kommandanten der Stadtwache zu melden nach Alcara fortgeschickt.

In der zwischen Zeit hatte sich Zaras Fantasie jedoch die schillerndsten Helden ausgemalt. Mal war es ein adliger Ritter wie aus den Geschichten, die ihr Bruder früher erzählt hatte, dann war es ein gnädiger Fürst und wieder ein anderes Mal ein beim Volk beliebter Aristokrat. Doch ihre bevorstehende Beförderung war nicht der eigentliche Grund, weshalb sie eine Woche früher angereist war.

Zara stellte den Kragen ihres dunklen Filzmantels gegen die kalten Seewinde auf und schob die Hände in die Taschen. Ihre rauen Fingerspitzen befühlten seidiges Papier, das tiefe Falzspuren aufwies, wohl wissend was der Inhalt des letzten Briefes war, bevor der Kontakt zu ihrem Bruder abgebrochen war.

Eine Adresse, mehr hatte er im vergangenen Monat nicht geschrieben. Mit der knappen Bitte ihn sobald wie möglich auf dem Festland zu besuchen. Damals war es ihr nicht möglich sofort aufzubrechen, da sie gerade ihre Grundausbildung abgeschlossen hatte und sich erst ihren Platz in der Armee und innerhalb ihrer Kompanie erarbeiten musste. Durch ihre absolute Hingabe und Liebe zum Militär wurde sie belohnt, indem sie zur gefürchtetsten Ausbilderin ihres Stützpunktes wurde. Doch nun hatte Zara genug von grünschnäbligen Rekruten, um so mehr freute sie sich jetzt ihren Bruder nach zwei langen Jahren, vier endlosen Monaten und fünfzehn schlaflosen Nächte wieder in die Arme zu schließen. Doch Zara stand am Rand einer überbevölkerten Hauptstadt, hatte gerade so die Silhouette der Stadt am Wasser überflogen und wusste, sie würde sich in dem verzweigten Netz aus gepflasterten Straßen und matschigen Pfaden nur all zu leicht verirren. Ganz gleich wie viel sie sich auf ihren Orientierungssinn einbildete, sie musste nach dem Weg fragen, wenn sie ihren älteren Bruder so schnell finden wollte wie möglich. Der westliche Anleger erschien ihr jedoch nicht der richtige Ort dafür. Er war Knotenpunkt für alle Reisenden, Seefahrer und Handelsmänner, die sich in einem unaufhaltsamen Kommen und Gehen an dem Hauptmann vorbeidrückten, ohne sie dabei wirklich zur Kenntnis zu nehmen.

Between Shades of JusticeWo Geschichten leben. Entdecke jetzt