Das Haus ihres Bruders hatte eine grüne Fassade. Es war nicht dasselbe frische Grün wie das der unschuldigen Blätter in den Blumenkästen vor seinen Fenstern, die aus der dunklen Erde herausragten. Sondern das gedeckte Grün einer ausgetrunkenen Rotweinflasche. Zara fand, dass es etwas geheimnisvolles an sich hatte.
Auf dem Kiesweg, der durch den kleinen Vorgarten zur Haustür führte, übernahm das Unkraut die Überhand und wucherte, als hätte man sich seit Wochen nicht darum gekümmert. Zara saß auf den brüchigen Treppenstufen, den Kopf in die Hände gestützt und starrte auf die grünen Büschel zwischen ihren Füßen hinab. Sie zählte jedes einzelne Blatt, während sie mit ihrem Bein hektisch auf und ab wippte, denn sie konnte genauso wie vor einem wichtigen Kampf nicht stillsitzen. Beinahe hätte sie ihr Schwert aus dem Seesack gekramt, nur um das tröstliche Gewicht ihrer Klinge in den Händen zu wägen.
Denn sie hatte geklopft, sie hatte durch die verhangenen Fenster geblickt und sie hatte einen seiner Nachbarn gefragt. Sie hatte gewartet und wartete immer noch auf ihren Bruder, dessen Dienst scheinbar nie enden wollte. Jedes Mal, wenn Zara hörte wie eine trabende Pferdekutsche in der Nähe zum Stehen kam, riss sie den Kopf in die Höhe, um festzustellen, dass es nicht er war der Ausstieg. Dieses Spiel spielte sie nun schon seit Stunden und während die Nachmittagssonne sich dem Horizont näherte, um dahinter gänzlich zu verschwinden, hatte Zara endlich genug. Sie überlegte ihren Bruder am Hafen zu suchen, obgleich ihr dieses Unterfangen unmöglich erschien trotz der blutroten Uniformen, die die Stadtwachen trugen. Denn die Wellen spülten stündlich zu viele Menschen an Land. Zara kannte nur noch einen Ort an dem sie nach ihm suchen konnte.
***
Das Forum Justicare war ein weitläufiger Platz im Herzen von Alcara und bildete den Vorhof der hölzernen Kathedrale, eines der wichtigsten Heiligtümer des Landes. Die Platten unter ihren Füßen waren rutschig, galt gelaufen von Generationen von Menschen als Zara das Forum betrat und innig hoffte das zu finden was sie suchte.
Betagte Priester der hölzerne Kathedrale spazierten an ihr vorbei, die sie mit einem kleinen Segen grüßten. Eifrige Mönche huschten immer wieder aus dem Seiteneingang, der direkt zum Kirchenschiff führte, während Gläubige durch das Hauptportal zur Messe strömten. Zara überquerte das Forum und beobachtete all diese unterschiedlichen Menschen, die in der hölzernen Kathedrale Zuflucht fanden, nur die Stadtwachen in ihren roten Uniformen, von denen sie wusste das sie da sein mussten, fehlten. Denn obgleich die Kathedrale ein göttlicher Ort war, die die gesamte Stadtwache beherbergte, die für den Schutz der Schwachen sorgte und die Gerechtigkeit des Gesetztes einforderte. Beides waren Werte, die Zara zu tiefst in ihr Herz eingeschlossen hatte und es als ihre heilige Pflicht betrachtete danach zu leben.
Genauso wie Zaras Gedanken schweifte auch ihr Blick ab und schnell fand sie sich die Kathedrale bewundernd wieder. Das dunkle Holz, so schwarz als hätte man sie niedergebrannt und aus ihrer eigenen Asche wiederaufgebaut, wirkte noch bedrohlicher in der sich herabsenkenden Dämmerung. Der romantische Fassadenschmuck, geschnitzt aus demselben dunklen Holz, viel Zaras flüchtigem Blick zunächst nicht auf. Hingegen staunte sie direkt bei dem Anblick der spitzen Erker, die den Himmel erdolchten. Blau-rote Buntglasfenster fingen die letzten Sonnenstrahlen des Tages ein und spiegelten den Himmel in seinen Farben wieder. Die hölzerne Kathedrale war ein Bauwerk von einmaliger Schönheit, veredelt durch die unterschiedlichen Baustile durch die sich die Architekten der Vergangenheit versucht hatten zu verewigen und... Leichen?
Nackte Füße baumelten in schwindelerregender Höhe von der Kirchenwand. Zara musste ihren Kopf weit nach hinten lehnen, um nicht nur eine, sondern gleich drei aufgedunsene Gestalten am Glockenturm hängen zu sehen. Anstelle eines bunten Halstuchs wie es dieses Frühjahr Mode bei den Männern war, schlang sich ein dickes Tau um ihre Hälse. Mit milchig, starren blickten sie auf die Passanten hinunter, die unberührt ihren Geschäften nach gingen.
Für Zara war der Tod nichts unbekanntes. Sie kannte beide Seiten des Gottes Mor, der ihrer Mutter ein gnädiges Ende bereitet hatte und Insassen der Gefängnisse quälend verrecken ließ. Doch selbst sie geriet bei einem solch makabren Anblick ins Stocken. Was mussten diese Männer nur verbrochen haben, um einer direkten Todesstrafe ausgesetzt zu werden, war es doch eine so unübliche Bestrafung.
Zara verspürte ein plötzliches Mitleid mit diesen armen Schweinen und erstickte das zart glimmende Gefühl, bevor es sich wie ein Wüstenbrand in ihrem Körper ausbreiten konnte. Die Richter von Alcara haben sicherlich ein gerechtes Urteil ausgesprochen, dachte sie und vertraute auf die Sicherheit des Rechtssystems.
Zara wollte weiterziehen, ihre Suche nach ihrem Bruder fortsetzten, doch das schrille Kreischen einer Krähe erregte ihre Aufmerksamkeit und ein letztes Mal spähte sie hinauf zum Glockenturm.
Der Vogel raste mit ausgestreckten Krallen auf den gehängten Mann in der Mitte zu und pflügte ihm im Flug das Auge aus dem Schädel. Gemütlich landete die Krähe auf der Schulter des Einäugigen neben einem Schopf schwarzer Ringellocken. Zara starrte in das verblieben Auge und stolperte über ihre Füße. Die Augen, das Haar, die Haut, alles passte zusammen. Ihre Gedanken kreisten umeinander wie zwei lauernde Tiere, während Zara aus der Ferne mit rasendem Blick das Gesicht der Leiche erforschte. Die Gase blähten bereits seinen Körper auf und machten feine Gesichtszüge unkenntlich, doch selbst der Tod vermochte nicht die wulstige Narbe an der Schläfe zu kaschiere, die sich im Haaransatz verlor. Ihr Bruder Quart baumelte mit gebrochenem Genick an der dunklen Fassade der Kathedrale und sein großes Herz würde nie wieder schlagen. Nein!
Bittere Galle füllte ihren Mundraum und sie drehte der Kathedrale abrupt den Rücken zu, presste beide Hände vor ihren Mund und schluckte schwer. Sie schaute nach rechts, dann nach links, keuchte schwerfällig, wie nach einem Kampf, und dabei stieg ihr der schlechte Geruch ihres eigenen Atem ins die Nase. Doch selbst das vermochte Zara nicht von ihrem Entsetzen abzulenken, das ihre Wirbelsäule hinaufkroch.
Zara packte den nächst besten Arm eines vorbeilaufenden Passanten und riss eine Wäscherin mittleren Alters an sich, der die frischen weißen Lacken aus den Händen glitt. Entrüstet blickte die Frau Zara an, holte Luft um eine Schimpftirade auf dieses ungezogene Mädchen los zu lassen. Zara kam ihr zuvor.
„Aus welchem Grund wurden diese Männer verurteilt?"
„Geht es dir gut, mein Kind?", fragte sie und betrachtete Zara mit einer Mischung aus Verärgerung und Sorge.
Zara überging ihre Frage, verstärkte ihren Griff um das Handgelenk der Wäscherin und deutete hektisch auf den Glockenturm. „Ich will wissen, warum diese Menschen hängen!", brach es harsch aus ihr heraus.
Die Frau folgte der Richtung in die Zaras Finger zeigte. Ihre Lieder flatterten überrascht, als bemerkte sie die Toten erst jetzt.
„Hochverräter", antwortete sie in einem schnippischen Ton und stieß Zara verstört von sich, um eilig davon zu stolpern.
Taumelnd ohne den Halt der Frau, blickte Zara in den dunklen Himmel hinauf. Sie atmete so schnell und tief ein wie sie konnte, doch es strömte keine Luft in ihre Lungen. Panisch kratzte sie mit den Fingern über ihre Kehle, keuchte und rang um jedes bisschen Sauerstoff. Zara ertrank, ertrank obwohl das Meer weit weg war und sie konnte nicht dagegen ankämpfen. Der Boden unter ihren Füßen kam näher. Um sie herum drehte sich alles, verschwamm vor ihren Augen, denn ihr Kopf war unter Wasser. Und mit einem markerschütternden Schrei, den man noch in der ganzen Stadt hören sollte, ging das Waisenmädchen zu Boden.
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Between Shades of Justice
FantasyWas bedeutet Gerechtigkeit? - Für Quart Senjada bestand Gerechtigkeit im Gesetzt, dass er als Mitglied der Stadtwache von Alcara tapfer verteidigt hatte, bis ihn seine Regeln im Stich gelassen haben. Und als Zara Senjada erfährt das ihr Bruder zum T...