Teil3

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Lillian

Schwaches Licht blendete Lillian durch die geschlossenen Lider hindurch. Von irgendwo her vernahm sie leises Meeresrauschen. Eine sanfte Briese streifte ihr Gesicht und der Geruch von Salz drang in ihre Nase, während das beharrliche Geschrei von Möwen in ihrem Kopf wiederhallte.

Da niemand plötzlich am Meer zu neuem Leben erweckt wurde, schloss sie aus den Umständen, dass es erstens einen Himmel geben musste, der zweitens kein Himmel, sondern ein Strand war.

Je mehr sie aber darüber grübelte, umso weniger anders schien sich das Totsein vom lebendigen Zustand zu unterscheiden.

Zaghaft öffnete sie die Augen.

Eine dunkle, hölzerne Decke und einige Spinnenweben an morschen Balken war alles, was sie sah.

Von wegen also mit den endlosen  Weiten eines Paradieses. Das Jenseits hatte also Ähnlichkeiten mit einem baufälligen Haus.

Das war tatsächlich erschütternd.

Langsam drehte Lillian den Kopf zur Seite und konnte dabei ein Aufstöhnen über den schmerzenden Nacken nicht unterdrücken.

Einige bunte Punkte, dunkles Holz und blendendes Licht, mehr erkannte sie nicht, außer etwas langes, was Schatten auf sie warf.

Einige Male blinzelte sie, dann erkannte sie endlich den Raum um sich herum und das große, geöffnete Fenster mit den gerissenen Scheiben.

„Na Prinzessin, hast du dich doch noch fürs Aufwachen entschieden?“

Die Stimme kam ihr bekannt vor.

Langsam sah sie an den schwarzen eingerissenen Hosenbeinen hoch, über einem schlichten T-Shirtstoff unter einer schwarzen sichtlich oft getragenen Lederjacke, bis sie direkt in dunkelbraune Augen blickte.

„Bin ich im Himmel?“, die Worte kamen verzehrt aus ihrem Mund.

Ihre Kehle war ausgetrocknet, die Lippen fühlten sich wie Papier an.

 „Sehe ich etwa aus, wie ein Engel?“, ihr Gegenüber grinste schief.

Lillian dachte angestrengt über die Frage nach, während sie den Mann musterte.

Das aschblonde, fast braune Haar sprach nicht unbedingt dafür. Genausowenig wie die zwar symmetrischen und auffallend feinen Gesichtszüge, die jedoch im Kontrast zu einem ungepflegten Dreitagebart und zahlreichen kleinen Narben standen.

Außerdem waren da noch seine dunklen Augen, die fast schwarz aussahen, unheilvoll, gebrochen und traurig irgendwie.

Gefallener Engel.

Ja, er hatte maximal mit einem gefallenen Engel Ähnlichkeiten.

Wobei sie kaum glaubte, dass der Trend im Himmel dazu ging, schwarze Lederjacken und Jeans zu tragen.

„Mierda, wie du starrst! Kannst du dich überhaupt noch an was erinnern? Das Zeug von Iván hat dich ja richtig zugedröhnt“

„Also bin ich nicht tot?“

Der Mann ließ sich auf den Sessel fallen, der durchaus etwas Antikes an sich hatte und legte die schlammigen Boots auf ihrem Bett ab.

„Noch nicht“, sagte er dann und griff nach einem Buch von dem kleinen Tisch neben ihm.

Lillian konnte den Titel nicht entziffern und ihre Gedanken wurden wieder schwerer.

„Wenn du kein Engel bist, sag mir wenigstens, dass du ein Arzt bist und ich in einem Krankenhaus bin“

Ihre eigene Stimme verklang so seltsam weit entfernt, dass sie trotz des betäubenden Nebels in sich die Angst spürte.

„Wenn es dir so am Herzen liegt: Ich bin ein Arzt und du bist im Krankenhaus“

Die hauchdünne, vergilbte Seite wurde mit leisem Schleifen umgeblättert.

„Du lügst“, sie spürte, wie ihr plötzlich die Tränen in die Augen stiegen und dass die Hilflosigkeit, die im Nebel wie ein wildes Tier gelauert hatte, begann in sie aufzufressen.

„Ja, ich habe eiskalt gelogen. Das hat sich so verführerisch angeboten, ich konnte einfach nicht wiederstehen.“

Er hob nicht einmal den Blick.

„Ich habe Angst“, sagte sie leise. Es verklang lallend, während ihr Herz begann zu rasen und gleichzeitig wieder die Schwärze nach ihr leckte.

„Me estás tocando los cojones…“

Er blätterte eine Seite weiter und strich sich eine halblange Strähne zurück.

Die Langeweile in seiner Stimme beruhigte Lillian ein wenig.

„Ein Traum“, sagte sie leise und ihre Lider schlossen sich schwer wie Blei.

„Nur ein Traum“

Unsere Wahrheit - Stockholm SyndromeWo Geschichten leben. Entdecke jetzt