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mitternacht

Es ist ein langer Tag gewesen. Bis spät in die Abendstunden hatte der Himmel sein Blau nicht verlieren wollen und erst ungefähr drei Stunden vor Mitternacht war die Sonne hinter den Häusern der Stadt und den Kronen der Bäume verschwunden. Es ist ein langsamer Abschied gewesen; so einer, wie Yoongi bevorsteht.

Er steht auf dem Friedhof und starrt auf das weiße Holzkreuz, auf den der Name seiner Schwester eingraviert worden ist. Immer wieder gleiten seine Augen darüber, zählen die Buchstaben, lesen ihn vor- und rückwärts. Als könnte er so etwas herausfinden, das sein ganzes Leben lang vor ihm versteckt geblieben ist.

Jimin sitzt neben ihm auf der Wiese. Im spärlichen Licht der Dämmerung zeichnet er Yong-Sun von einem Foto ab, das Yoongi gegeben hat. Er glaubt, dass es Glück bringen wird, das Bild eines glücklichen Momentes mit ihren Knochen zu begraben. Und Yoongi glaubt, dass Yong-Sun die Idee gemocht hätte.

»Wer kommt noch?«, fragt Jimin nun. Er sieht nur für einen Moment auf, um zu gucken, ob Yoongi sich für seine Antwort umdreht. Aber er tut es nicht, also setzt Jimin seine Arbeit fort.

»Namjoon und Mateo, ihre Vermieter. Taehyung, ihr Freund. Seokjin, einBekannter von ihr. Hoseok, der Friedhofswärter. Und Jeongguk, von dem ich mir ein Klavier geliehen habe«, erwiedert Yoongi ruhig. Er wendet seinen Blick dabei nicht von der Grube vor seinen Füßen ab. Wäre Jimin nicht hier, hätte er sich vielleicht gewünscht, er könnte sich dort mithinein legen. Hoseok würde das bestimmt verstehen.

»Wirst du spielen?« Leise Überraschung liegt in Jimins Stimme.
Noch einmal sieht er auf und diesmal Yoongi in die Augen. Sie sind so dunkel wie der Himmel, aber auf seinen Lippen liegt ein leichtes Lächeln. »Ich habe es ihr versprochen.«

Die silbrigen Blätter der Bäume glänzen im Mondlicht und rauschen im seichten Wind. Yoongis dunkle Haare tun es ihnen gleich, aber er beachtet sie kaum. Stattdessen blickt er jetzt nach oben, den Kopf in den Nacken gelegt und in Gedanken in der Vergangenheit.
Dort am Himmel erscheinen immer mehr Sterne. Es ist, als würden die Lichter der Stadt langsam vom Boden ans Firmament steigen. Mit jedem von ihnen erinnert sich Yoongi an eine weitere Nacht aus seiner Kindheit und eine weitere Geschichte, die Yong-Sun ihm damals erzählt hat. Geschichten, die mit der Zeit verstummt sind und Nächte, die immer einsamer geworden waren.

Hoseok ist der erste, der auftaucht, auch wenn er eigentlich schon die ganze Zeit hier gewesen sein musste. Er ist in seinem dunklen Hemd in der Nacht kaum zu sehen, aber Yoongi erkennt ihn trotzdem sofort.
Mit ihm kommt Namjoon; zusammen tragen sie den schlichten Sarg, in dem Yong-Sun liegt. Er wirkt zwischen den Stämmen der mächtigen Bäume so klein, dass es Yoongi so vorkommt, als müsse man darin ersticken. Aber das spielt schließlich keine Rolle mehr.

»Hey Yoongi«, begrüßt Namjoon ihn, während Hoseok nur nickt. Sie stellen den Sarg neben die dafür vorgesehene Grube. Auf Namjoons Stirn, an seinem Haaransatz, hat sich Schweiß gesammelt, den er mit dem dunklen Saum seines engen Shirts abwischt. Noch immer ist es warm, auch wenn die Hitze des Tages mit dem Sonnenlicht verschwunden ist.

good night, sun ― yoongiWo Geschichten leben. Entdecke jetzt