Keuchend sah ich mich um. Ich nahm alles durch eine Art Schleier wahr. Abgestumpft und leise. Und dennoch kämpfte ich mich weiter vorwärts. Ich musste ihn finden. Ich musste ihn beschützen. Das war meine Pflicht als grosse Schwester.
«Tymon!», schrie ich den Namen meines Bruders und versuchte ihn in dem tobenden Chaos aufzuspüren. Immer wieder wich ich einer Pranke oder Schnauze aus und suchte unbeirrt weiter.
«Iman!» Augenblicklich horchte ich auf.
«Iman!», schrie es erneut und da sah ich ihn. Der kleine Junge mit den braunen Haaren wurde näher an eine Häuserwand gedrängt. Zähnefletschend kam ihm der grau-braune Wolf immer näher. Auch aus der Entfernung erkannte ich die Angst meines kleinen Bruders. Schnell wich ich dem nächsten Gegner aus und rannte in die Richtung, wo sich Tymon befand. Ich verwandelte mich in meine Wolfsgestalt und rammte den grau-braunen Angreifer mit Wucht zur Seite. Ich deutete Tymon, mir zu folgen, und während ich mich zurück verwandelte, griff ich nach seiner Hand. Gemeinsam rannten wir an dem Schlachtfeld vorbei, wobei ich versuchte Tymons Sicht auf das Blutvergiessen zu verdecken. Das war definitiv nichts für kleine Kinder. Aus dem Augenwinkel musste ich mitansehen, wie einer meiner besten Freunde zu Boden ging. Nur mit Mühe hielt ich die Tränen und die Wut unter Kontrolle. Ich durfte jetzt nicht nachgeben. Ich musste Tymon hier raus schaffen. Ihn in Sicherheit bringen. Und zwar dringend. Ansonsten waren Tymon und ich die Nächsten. Wir kamen an unserem Haus an und ich riss die Tür auf. Im Flur schnappte ich mir den erstbesten Rucksack und schmiss achtlos mein Handy hinein. Anschliessend sprintete ich in das Zimmer meines Bruders. Ich griff nach seinem Hoodie, welcher über seinem Stuhl hing. Beim Vorbeigehen entdeckte ich seinen MP3-Player auf dem Bett. Beides stopfte ich in den Rucksack und rannte weiter in mein Zimmer. Immer noch voller Panik und Schock riss ich meinen Schrank auf, nahm mir eine weinrote Kapuzenjacke heraus und steckte sie in den Rucksack, den ich zitternd umklammert hielt. Mein Portemonnaie liess ich ebenfalls hineinfallen, bevor ich in der Küche Halt machte, nach zwei Äpfel und einer kleinen Wasserflasche griff und alles verstaute. Beim Rausgehen verschloss ich mein Gepäck. Am Waldrand, gut versteckt hinter einem Busch, stand auch schon Tymon. Da kam mir plötzlich ein Gedanke. Ich warf ihm den Rucksack zu und rief: "Lauf!" Er verstand, band sich den Rucksack auf den Rücken und sprintete los. Ich rannte noch einmal zurück, riss die Schublade der Kommode auf und schnappte mir die Pässe von Tymon und mir. So gut es ging, stopfte ich sie in meine Hosentasche und rannte Tymon hinterher.
Meine dunkelbraunen Haare peitschten um mich herum, als ich den kleinen Waldweg entlang preschte. Ich verwandelte mich und folgte Tymons Geruch. Als ich ihn entdeckte, heulte ich einmal kurz auf, damit er mich erkannte. Anschliessend rannte ich auf ihn zu, packte den Rucksack mit meiner Schnauze und warf Tymon auf meinen Rücken. Ich preschte los, während sich mein kleiner Bruder an meinem Fell festkrallte.
Wir rannten und rannten, ohne eine Pause zu machen. Als wir endlich den Wald verliessen, war es bereits dunkel und man konnte die Sterne sehen. Tymon stieg von meinem Rücken und ich verwandelte mich zurück. Vorsichtig schlichen wir durch ein kleines Dorf auf der Suche nach einem Ort zum Übernachten. Die genaue Uhrzeit wusste ich nicht, aber ich war mir sicher, dass wir eine kleine Herberge finden würden, welche um diese Zeit noch geöffnet hatte. Die Strassen wurden nur spärlich durch die Laternen und das Licht aus den Häusern beleuchtet.
Auf einmal ging ein paar Meter vor uns eine Tür auf und drei grosse, erwachsene Männer torkelten heraus. Sie grölten und konnten kaum noch stehen. Eindeutig zu tief ins Glas geschaut. Als sie auf uns zu liefen, spürte ich, wie Tymon ängstlich nach meiner Hand griff. Ich drückte diese leicht, um ihm zu zeigen, dass ich ihn beschützen würde. Das mir das Ganze auch nicht geheuer war, liess ich mir nicht anmerken. Ich hatte nun die Verantwortung für meinen Bruder und ich würde ihn um jeden Preis beschützen.
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Omega (Leseprobe)
WerewolfKaum 16 Jahre alt, schon wird die junge Werwölfin Iman auf eine harte Probe gestellt. Der einzige Weg ihren kleinen Bruder zu beschützen, ist die Flucht in die Heimat ihres Vaters. Ein nervenaufreibender und emotionaler Kampf um Stolz und das eigene...