Mit schnellen Schritten liess ich das Dorf hinter mir und lief zu unserem Schlafplatz. Tymon lehnte am Baum und blickte sich um, als ich mich neben ihn fallen liess.
«Hast du gut geschlafen Grosser?», fragte ich und schob die Kapuze von meinem Kopf.
«Es geht», gähnte er, während er Arme und Beine von sich streckte.
«Ich war einkaufen. Hast du Hunger?», fragte ich und hielt ihm ein Toastbrot hin. Er nickte, nahm es mir aus der Hand und biss hinein.
Nach der Hälfte drehte er seinen Kopf zu mir und sah mich verwirrt an.
«Isst du nichts?» Ich erkannte die Sorgen in seinen Augen. Sorgen, die er in seinem Alter noch nicht haben sollte.
«Ich hab keinen Hunger», meinte ich und lächelte ihn schwach an. Tymon rutschte zu mir rüber und lehnte sich an mich.
«Ich weiss, du vermisst Mum und Dad. Ich doch auch. Aber du hättest nichts für sie tun können.» Tränen sammelten sich in meinen Augen. Wenn ich das nur auch so sehen könnte.
«Doch! Ich hätte kämpfen müssen! Ich hätte nicht einfach weglaufen dürfen! Ich bin eine schlechte Tochter!», schluchzte ich und die Tränen liefen mir über die Wangen.
«Sag das nicht. Selbst wenn du gekämpft hättest, hätte das nichts geändert. Das andere Rudel war zu stark für uns. Und ich bin sicher, dass Mum und Dad stolz auf dich sind!» Ein Lächeln schlich sich auf meine Lippen, als ich meinen kleinen Bruder umarmte und ihm zu flüsterte: «Ich bin so froh, dass ich dich habe!»
Als wir uns voneinander lösten, meinte Tymon: «Ich esse noch schnell auf und dann können wir los.» Ich nickte und wischte mir die letzten Tränen von der Wange. In diesem Moment kam es mir so vor, als ob Tymon der Teenager wäre und ich das achtjährige Kind. Kurze Zeit später hatte Tymon sein Brot aufgegessen und wir konnten los. Wir folgten dem Weg, welcher vom Dorf aus in die nächstgrössere Stadt führte.
Tage lang waren wir unterwegs. Mittlerweile hatte ich jegliches Zeitgefühl verloren. Ich wusste weder welcher Tag heute war, noch welchen Monat wir zurzeit hatten. Ich wusste nur, dass wir irgendwo in England waren und das auch nur, weil wir auf eine Fähre nach Grossbritannien gestiegen waren. Ich richtete meinen Blick gen Himmel. Wir sollten uns langsam einen Schlafplatz suchen. Die Sonne verschwand bereits Stück für Stück am Horizont. Wir waren schon sehr lange auf den Beinen und Tymon war völlig erschöpft. Ich hatte schliesslich zugestimmt ihn zu tragen und nun lag er mit dem Rucksack auf meinem Rücken und krallte sich an meinem Fell fest, damit er nicht hinunterfiel. So viel Kraft schien er gerade noch zu haben. Wir liefen gerade durch einen wunderschönen Wald, als ich plötzlich einen fremden Geruch wahrnahm. Ich hielt meine Nase in den Wind und versuchte den Geruch zu identifizieren. Es waren Werwölfe. Drei, um genau zu sein. Und sie kamen von Norden. Als sie zwischen den Bäumen hervortraten und auf mich zu steuerten, knurrte ich bedrohlich. Jedoch schien es sie nicht mal zu stören. Sie liefen einfach weiter. Alle drei waren grösser als ich und musterten mich misstrauisch. Der links hatte ein graues Fell, welches an manchen Stellen weiss war, und stechende, hellgraue Augen. Der auf der rechten Seite hatte braunes Fell und hellbraune Augen. Die beiden blieben stehen und ein pechschwarzer Wolf trat zwischen ihnen hervor. Er war ein Stück grösser als die anderen beiden und seine Augen hatten eine tiefschwarze Farbe mit einem roten Rand um die Pupille. Er sah faszinierend und angsteinflössend zugleich aus, doch ich nahm meinen ganzen Mut zusammen und stellte mich ihm entgegen. Ich knurrte, um ihm zu zeigen, dass ich mich nicht so leicht unterwerfen würde. Der schwarze Riese vor mir riss sein Maul auf und baute sich bedrohlich vor mir auf.
«Iman! Wir sind nicht hier, um zu kämpfen!», vernahm ich die kindliche Stimme meines Bruders. Und natürlich hatte er recht, auch wenn mein Stolz das nicht zulassen wollte.
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Omega (Leseprobe)
WerewolfKaum 16 Jahre alt, schon wird die junge Werwölfin Iman auf eine harte Probe gestellt. Der einzige Weg ihren kleinen Bruder zu beschützen, ist die Flucht in die Heimat ihres Vaters. Ein nervenaufreibender und emotionaler Kampf um Stolz und das eigene...