Es war tiefste Nacht, Mitternacht schon längst überschritten. Sie vernahm das leise Knistern des Feuers, welches flackernde Schatten an die Wände warf und in dem geräumigen Zimmer eine gemütliche Wärme verbreitete, die zwischen den Möbeln in jede Ecke kroch und sich alle Mühe machte, die Kälte und die Nacht zu vertreiben.

Romy trommelte mit den Fingern gegen die Fensterscheibe, an der auf der anderen Seite sanft die Regentropfen zurückprasselten. Verträumt blickte sie in die Dunkelheit hinaus, und fragte sich, warum sie sich so sorglos vorkam. Sie legte ihre Hand flach gegen die Scheibe, spürte die Kälte, die Gänsehaut, die sich daraufhin an ihren Armen hochschlich.

Seufzend senkte sie ihre Hand, die daraufhin auf den Gegenstand in ihrem Schoß viel. Sie zuckte zusammen, für einen Moment hatte sie ihn vergessen. Sie blickte hinunter, während sie ihn mit den Fingern umschloss und anhob. Im Dämmerlicht des brennenden Kaminfeuers kniff sie die Augen zusammen, um das verschlungene Blättermuster zu erkennen.

Dann legte sie ihn vorsichtig auf ihre Beine zurück. Jetzt erkannte sie den Grund ihrer Sorglosigkeit. Sie hatte sich vor – sie blickte kurz auf die Wanduhr zu ihrer rechten Seite, erkannte verschwommen die Uhrzeit – genau acht Minuten dazu entschlossen, dass es an der Zeit war, dem Ruf zu folgen.

Sie senkte eine vor Freude zitternde Hand wieder auf ihren Schoß und fühlte sich bei der erneuten Berührung des Gegenstands wie entflammt, ihr Inneres schien förmlich zu zerspringen. Sie umschloss ihn dieses Mal fester, hob ihn erneut an und betrachtete die kleine verzierte Kiste, dessen Muster sie jedes Mal neu faszinierte. Es erinnerte sie an fast vergessene Herbsttage vor vielen Jahren, an die warmen Hände, die ihr das Kästchen geschenkt hatten.

Sie öffnete vorsichtig den Deckel und hob den schmalen silbernen Reif heraus, der einsam auf dem dunkelroten Samet lag. Sie drehte ihn zwischen den Fingerspitzen im Schein der Kerze herum, bis sie die zarte Inschrift erkannte.

Ich fürchte nichts – nichts – als die Grenzen deiner Liebe.

Sie streifte ihn über die Finger auf ihr Handgelenk. Kabale und Liebe. Wie hatte er die Schriftsteller verehrt. Sanft drehte sie den Reif herum. Und wie hatte er das alles geliebt, die endlosen Opern und Aufführungen, das ewiglange Deklamieren, die Monologe, die Trauer und Verzweiflung, der fürchterliche Liebesschmerz, die Melancholie, die sich daraufhin jedes Mal neu in seine eigenen Augen schlich, die nie gekünstelt schien, ihn aber trotzdem irgendwie immer wie einen Schauspieler wirken ließ. Manchmal hatte sie dann nach seiner Hand gegriffen, wonach er ihre Hand immer zwischen seine sanften Finger genommen und an seine Lippen geführt hatte.

Er wisperte dabei besonders gerne ihren Namen. Romy...

Sie schüttelte leicht den Kopf. Manchmal kam es ihr so vor, als hätte er sich damals nur in ihren Namen, und nicht in sie verliebt. Er hatte es jedoch jedes Mal wieder gut gemacht, wenn er manchmal morgens einen Zettel neben ihr auf seinem Kissen hinterließ, mit einem Liebesgedicht, das er auswendig zu Papier brachte.

Immer wieder, ob wir der Liebe Leidenschaft auch kennen...
Immer wieder gehn wir zu zweien hinaus...

Darin hatte sie sich verliebt. In seine Rezitationen, in seine Melancholie, in seinen Hang zum Tragischen. Jeder Streit hatte ihn zerrissen, jedes unfreundliche Wort das Herz gebrochen. Manchmal hätte sie ihn dafür erwürgen mögen, doch wenn er ihr als Entschuldigung von seinem täglichen Spaziergang einen Strauß Blumen heimbrachte, plagte sie bereits ihr Gewissen, und sie übersäte ihn mit Zärtlichkeiten, ging tagelang ganz vorsichtig mit ihm um. Bis er wieder einmal vergaß, die Katze zu füttern oder den Kasten mit dem Brot zu schließen. Dann konnte sie nicht anders als ihn grob zurechtzuweisen, und brach ihm dabei erneut das Herz. Dann ging er erschüttert in den Regen hinaus, kam mit den Blumen zurück und sie versöhnten sich feierlicher als in jedem Theaterstück. Es hatte sie damals bis aufs Letzte ausgelaugt.

Sie kehrte langsam aus ihren wirbelnden Erinnerungen in die Gegenwart zurück, hörte wieder den stärker werdenden Regen, spürte das Geräusch der Tropfen in ihren Ohren rauschen. Sie blickte zu ihren Händen hinunter und sah, dass sie den Reif fest umklammert hielt. Ihr wurde klar, dass sie Jahre später immer noch nicht wusste, wo er das Geld hergenommen hatte, ihr dieses Schmuckstück zu schenken. Aber sie wusste nun, was sie tun musste.

„Verzeih mir.", flüsterte sie.

Sie stellte das Kästchen auf den Tisch und stand auf. Das Feuer im Kamin war schon weit heruntergebrannt, die verkohlten Holzscheite glühten schwach. Sie drehte sich zu dem bodenlangen Spiegel an der Wand gegenüber der Uhr um, deren Zeiger nun schon etwas weiter fortgeschritten waren, und sah ihre dämmrige Gestalt darin reflektiert.

Romy riss die rote Samtschleife aus ihrem Haar, warf sie von sich, schüttelte den Kopf und ließ die dunklen Locken frei auf ihre Schultern fallen. Sie strich mit den Fingerspitzen über ihr zartrosanes Seidennachthemd, hob ihre Finger an die Schultern und schob die Träger an den Seiten herunter. Lautlos glitt das Nachthemd an ihrem Körper auf den Boden herunter. Sie spürte die kühle Seide um ihre Fußgelenke, trat vorsichtig aus ihr heraus, und drehte ihrer nackten Gestalt im Spiegel den Rücken zu, in dem sie den Armreif silbrig aufblitzen sah. Sie spürte ihre weichen Locken im Rücken, bückte sich, hob das Nachthemd auf und lief auf Zehenspitzen zu dem Kamin, in dem die Kohlen rot funkelten.

Sie lief im fast schon gänzlich dunklen Zimmer zu dem riesigen Bett, strich die Bettdecke zurück und schlüpfte hinein. Sie drehte sich auf die Seite, strich sanft über das Kissen neben ihr, auf dem sie die endlosen Liebesbriefe erhalten hatte, und seufzte. Mit beiden Händen auf dem Kissen, die Innschrift in Gedanken, drehte sie den Armreif noch einmal auf ihrem Gelenk herum, und schloss die Augen. Während die Wärme aus den Ecken und zwischen den Möbeln wieder in den Kamin zurück kroch, zu dem Schornstein hinaus in die schwarze, regnerische Nacht.

...nichts - nichts - als die Grenzen deiner Liebe.

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