Kapitel 1 - Nella

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Ich rannte. Das Leinentuch eng an meine Brust gedrückt, rannte ich vor dem rot angelaufenen Bauern davon. Warum er rot angelaufen war? Nun vor Wut denke ich mal, schließlich hatte ich ihm gerade ein paar frische Brötchen geklaut. Ich glaube, dass fand er nicht so lustig. Schwer atmend blickte ich zurück. Der dicke, kahlköpfige Mann lief auf seinen kurzen Beinen immer noch hinter mir her. Doch ich sah, wie ihm die Puste ausging. Schließlich blieb er stehen und sah mir zornig hinterher. Ich lacht auf und sprang zwischen die Bäume hin Sicherheit. Seit ich denken konnte, stahl ich mir das, was ich brauchte, von anderen Leuten. Mir blieb ja nichts anderes übrig. Ich hatte keine Eltern, zumindest keine richtigen. Ich war bei einer kleinen Bauernfamilie aufgewachsen, doch die Söhne und Töchter des Bauern hatten mich nicht akzeptieren wollen. Daher hatte ich an am Morgen meines zwölften vermuteten Namenstages, die wichtigsten Dinge in einen kleinen Beutel eingepackt und war von dem heruntergekommenen Hof geflohen. Ich hatte nichts mehr von der Familie gehört und das war mir nur recht so. Bei denen war nicht mein Platz, so viel war sicher. Seitdem lief ich nun schon durch das Land, stahl hier und da etwas zu essen oder arbeitete gegen ein Dach über den Kopf in einer Schenke für ein paar Tage.

Schnell war ich an meinen kleinen Unterschlupf, ein großes Loch, hoch oben in einem gigantischen Baum, angekommen. Geschickt kletterte ich die kleinen Äste und Zweige hoch und hievte meinen Körper schließlich momentanes Zuhause. Dort angekommen späte ich kurz nach draußen, um sicher zu gehen, dass mich keiner gesehen hatte. Mir war die Einsamkeit lieber, daher hielt ich mich von festgefahrenen Wegen und großen Städten fern, bannte mir meinen eigenen Pfad durch das Unterholz und blieb nie länger als nötig an einem Ort. Da ich von meinem Versteck niemanden sah, widmete ich meine Aufmerksamkeit wieder den noch warmen Brötchen zu. Sie dufteten herrlich. Ich kramte in meinen Sachen und holte eine dicke Wurst heraus, die ich vor ein paar Tagen einem Fleischer stibitzt hatte. Mit meinem kleinen Messer schnitt ich ein paar Scheiben von der Wurst ab und verspeiste diese mitsamt zwei Brötchen. Den Rest meines kargen, aber köstlichen Mahles, wickelte ich wieder in dem Leinentuch ein und verstaute es in meinen Beutel. Schließlich verspürte ich Durst und machte mich auf den Fluss, den ich gestern entdeckt hatte aufzusuchen.

Dort angekommen trank ich gierig von dem klaren Wasser. Schließlich starrte ich mein Spiegelbild auf der glitzernden Oberfläche an. Ein junges, unscheinbares Mädchen mit schwarzen Augen blickte mir entgegen. Da es nicht glücklich aussah, versuchte ich zu lächeln, doch das Mädchen im Wasser schaute nur mit einer verzerrten Grimasse und traurigen Augen zu mir auf. Ich seufzte und schüttelte den Kopf. Ich redete mir zwar ein, dass Alleinsein für mich am besten war, doch tief im Inneren spürte ich ein Leere, die ich gerne gefüllt haben wollte. Langsam stand ich auf und zog mich von Kopf bis Fuß aus. Ein kühlendes Bad würde mich sicherlich auf andere Gedanken bringen. Vorsichtig ging ich an der Rand des Flusses. Das Wasser war nicht schnell, doch der Fluss war tief und am Boden lagen glitschige Steine. Als ich mit einem Zeh, das Wasser berührte, zuckte ich zurück. Es war eiskalt und ein Schauer lief mir über den Rücken, der mich frösteln ließ. Kurz spielt ich mit dem Gedanken, meine Wäsche auf später zu verschieben, doch so ich verwarf dies sofort, da ich so endlich wach werden würde. Also atmete ich einmal tief ein und stieg selbst bewusst in den Fluss. Sofort umspülte das Wasser meine Beine bis zum Knie. Je näher ich in die Mitte kam, desto tiefer wurde es und schließlich stand ich bis zum Bauchnabel dem Fluss. Ich zitterte vor Kälte, doch überwand ich mich ein zweites Mal. Mit geschlossenen Augen ließ ich mich ganz in das Wasser gleiten, sodass auch mein Kopf von dem Wasser eingeschlossen wurde. Lange hielt ich es allerdings nicht aus und schwer atmend stieß ich wieder an die Wasseroberfläche. Ich tauchte noch zweimal unter, bis ich mich an die Temperatur gewöhnt hatte. Anschließend wusch ich mein Gesicht noch einmal gründlich.

„Ist es nicht etwas zu kalt zum Baden?“, sagte plötzlich eine Stimme hinter mir. Ich drehte mich, im Wasser sitzend, um. Am Ufer etwas Flussaufwärts standen zwei Jungen. Sie waren mindestens beide einen Kopf größer als ich, schienen aber ungefähr gleich alt zu sein. Mir kamen die Beiden bekannt vor und ich erinnerte mich an den Gasthof, wo bis vor zwei Tagen untergekommen war. Die beiden Jungs waren den einen Abend auch dort aufgetaucht und waren mit der schüchternen Kellnerin, dir dort mit mir gearbeitet hatte, nicht gerade pfleglich umgegangen. Schnell kam mir in den Sinn, was die Beiden mit mir vorhatten.

„Keine Ahnung, ist es das?“, rief ich ihnen als Antwort schließlich entgegen, während ich mich unauffällig Richtung Ufer gleiten ließ. „Kommt doch rein, dann könnt mir sagen, ob es zu kalt ist!“

Ich sah, wie die Beiden ich angrinsten. Dann durfte ich beobachten, wie sie sich erst das Hemd und dann die Hose auszogen. Mittlerweile war das Ufer an dem meine Sachen lagen in unmittelbarer Nähe, doch ich wartete noch, bis die sich die Jungs in das kalte Wasser getraut hatten. Auch sie tauchten ein, zwei Mal unter um sich an das Wasser zu gewöhnen, und gingen währenddessen immer näher auf mich zu. Gerade als Beide gleichzeitig zum zweiten Mal den Kopf unter das Wasser tauchten, sprang ich aus dem Fluss und griff mir so schnell ich konnte meine Sache. Ehe die beiden realisieren konnten, dass ich nicht mehr im Fluss war, sprintete ich zu ihren Sachen und schnappte mir auch diese.

„Tja, Jungs, ich muss los. War nett mich euch zu baden“, rief ich und zwinkerte ihnen zu. Schnell drehte ich mich um und lief immer noch nackt durch den Wald. Ich hörte noch ihre entsetzten Rufe, als sie bemerkten, dass ich auch ihre Hosen mitgenommen hatte, und musste darüber nur lachen. Jedoch verschwand dieses Lachen bald, denn mir war bewusst, dass ich wieder weiterziehen müsste. Sie würden mich suchen und vermutlich auch finden, wenn ich nicht auf der Stelle von diesem Ort verschwand. Vor meinem Baum angekommen, trocknete ich mich mit einem Hemd der Beiden ab und zog mich schnell an, ehe ich meine Sachen aus dem Baum holte. In den Beutel stopfte ich die kürzere Hose und das noch trockene Hemd des anderen Jungen, man weiß schließlich nie, wann man das noch man braucht, und schmiss die andere ins Gebüsch. Dann schulterte ich meinen Beutel und lief Richtung Osten, so schnell wie möglich weg von hier.

Die Neunte KöniginWo Geschichten leben. Entdecke jetzt