Regenbögen

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Auch heute war der Himmel klar, so klar, dass man hätte meinen können, im strahlenden Blau das eigene Gesicht widergespiegelt zu sehen. Die Sicht reichte bis zum Horizont, meine Liebe. Aber wie du immer gesagt hast: Ein wunderschöner Tag bringt gar nichts, wenn man ihn nicht sehen kann. Und ich muss gestehen auch heute meine Brille vergessen zu haben. Verzeih.
Ich bin zu unserer Bank gelaufen. An warmen Tagen wie heute, tummeln sich die Menschen auf den weiten Wiesen, zwischen den bunten Blumengärten.
Der Park war so schön wie an unserem ersten Tag...

Er schritt langsam durch den erblühenden Park, blieb an der einen Blume stehen, an diesem und jenem Strauch und betrachtete die stetig wachsenden Bäume.
Der Park war so schön wie an dem Tag, an dem er ihr begegnete. Hier stand sie, erinnerte er sich. Einen Kreis aus Freundinnen um sich stehend.
Er hatte sich kaum getraut auf sie zuzugehen, doch als er erst einmal vor ihr stand und ihr Haar im Wind auf ihn zu wehte, konnte er ihr blumiges Parfüm riechen. Er hatte bemerkt, dass sie regelmäßig herkam, da sie sich wohl für Botanik interessierte.
Dieser Gedanke zauberte ein Lächeln in sein vom Alter gezeichnetes Gesicht. Hätte er ihr doch damals nur schon sagen können, dass sie einen eigenen Blumenladen führen wird; dass sie beide gemeinsam alt werden würden und lebhaften Enkeln zur Einschulung gratulieren werden. Stattdessen kassierte er damals eine Abfuhr. Und noch eine. Erst beim dritten Anlauf - wahrscheinlich aus Mitleid - ging sie mit ihm auf einen Jahrmarkt.

Seine Beine hatten ihn wie von selbst weiter geführt. Eine unsichtbare Kraft schien ihn immer wieder in eine bestimmte Richtung zu lenken - auch wenn er es nicht gewollt hätte.
So gelangte er schließlich an ein etwas abgelegenes, altbekanntes Fleckchen. Kurz vor einem annähernd senkrechten Abgang nach unten, stand eine von wild wachsendem Gras umschlossene Bank.
Die Bank - von seiner Frau liebevoll „unsere Bank" benannt - war von weitem nicht gut zu sehen, da sie versteckt hinter einigen Büschen und Bäumen vor Blicken geschützt war, jedoch nicht vor der Sonne, die sie hat ausbleichen lassen.

Als er wie jeden Sonntag so da saß und in Erinnerungen schwelgend das Tal betrachtete, störte auf einmal ein sich näherndes Schluchzen die Idylle.
Ein Mädchen von nicht ganz 18 Jahren (sie musste ungefähr die Größe seiner Frau haben), in einem bunten Sommerkleid und zerzausten langen schwarzen Haaren, stolperte an den Büschen vorbei, welche die Sicht auf die Bank verbargen. Ihre Wangen waren tränennass und ihre Lippen bebten. Sie hatte sich gedankenverloren neben ihn auf die Bank fallen lassen und erschrak als sie den alten Mann nicht weit von sich entfernt sitzen sah.

Bevor sie wieder weggehen konnte, bot er ihr sein Taschentuch an, welches mit seinen Initialen versehen war. Als die tiefe Trauer in den Augen des Mädchens kurz einem Hauch von Belustigung wichen, folgte er ihrem Blick zu seinem in ihren Augen archaischen Relikt und schmunzelte.
„Meine Frau hat es mir geschenkt... sie hatte damals gerade erst Sticken gelernt - sie war sehr stolz darauf..." , sagte er mehr an sich gewandt als an jemand anderes. Ein Vogel zwitscherte. „Ich kenne diese Tränen." Seine Augen suchten die ihren. „Du hast das Gefühl nie wieder lieben zu können..." , murmelte er, den Blick nun wieder in die Ferne gerichtet.

Sie betrachtete ihn, wie er da saß - stolz, aufrecht und so sanftmütig. Beinahe liebevoll starrte er in das Tal hinunter, nein, darüber hinaus. Auf einmal hatte sie das Gefühl, nicht neben irgendjemandem zu sitzen - er schien ihr so unwirklich, dass sie zu blinzeln begann. Doch da saß er. Ruhig. In sich gekehrt. Langsam atmend, betrachtete er den Horizont.

„Er... er hat mich betrogen. Mein Freund. Ex-Freund..." , erwiderte sie leise. Ohne auf eine Antwort zu warten, fuhr sie hastig fort - als könnte sie es damit vergessen: „Drei Jahre. Wir sind seit drei Jahren ein Paar. Mit ihm hatte ich meinen ersten Kuss. Wir waren gemeinsam im Urlaub, haben ein gemeinsames Foto-Album. Er hat meine kleine Schwester vom Ballett abgeholt, er hat für mich gekocht, er hat meine Hand gehalten, als wir meinen Kater einschläfern lassen mussten. Drei. Jahre. Wieso jetzt? Wieso konnte er nicht vorher mit mir reden?! Ich habe ihm vertraut. Und er... Ich versteh es einfach nicht... er hat doch... aber... wieso?" Am ganzen Körper zitternd, umschlang sie ihre Beine und legte ihr Kinn auf ihren Knien ab. Den Blick starr nach unten gerichtet konnte sie nichts weiter tun als sich der ermüdenden Last zu ergeben - den Blick an ein paar vertrocknete Grasbüschel gefesselt.

„Ich komme schon seit vielen Jahren in diesen Park. Hier habe ich meine Frau das Erste Mal gesehen. Sie war so schön wie eine der weißen Blumen drüben beim Pavillon... seit ihrem Tod komme ich regelmäßig hier her. Sie hat diese Bank geliebt..." , meinte er, wobei sein letzter Satz nur gehaucht war.
„... das tut mir sehr leid..." , brachte sie heraus.
Er blickte zu ihr und meinte lächelnd: „Das muss es nicht. Sie ist hier. An jedem Tag. Ich sehe sie in jedem Windhauch, jeder Blume und jedem Brunnen... in jedem... Regenbogen."

Bei diesen Worten blickte sie auf und öffnete erstaunt ihren Mund. Ja, dort war er - ein Regenbogen. Er zog sich über das gesamte Tal. Seine Farben so prächtig strahlend, wie ich es noch nie an einem Regenbogen gesehen hatte.
Mit feucht-funkelnden Augen bestaunten sie beide, was sich ihnen bot. Eine Szenerie wie aus einem Märchen.

„Sie hat mich abgewiesen als ich sie das erste Mal nach einer Verabredung fragen wollte. Sie dachte, ich würde nach dem Weg zu den Toiletten fragen" , schmunzelte er wieder. „Wir saßen auf dieser Bank - unserer Bank - als ich um ihre Hand anhielt. Zeit spielte für uns hier keine Rolle. Den ganzen Tag saßen wir da... bis sie ihn bemerkte, einen Regenbogen. Sie sagte, dass die Vergänglichkeit der Regenbögen sie besonders schön macht. Sie seien selten. Manch einer habe noch nie das Glück gehabt auch nur einen zu sehen - andere dagegen, werden schon mehrere gesehen haben. Die einen würden sie suchen, die anderen würden ihnen ohne Vorwarnung begegnen. Doch besonders seien sie alle... ich gestand ihr, es sei mein erster Regenbogen und fragte sie, ob sie mein Regenbogen sein wolle." Sein Husten unterbrach seine Erzählung. Er warf ihr einen komplizenhaften Seitenblick zu. „Ich weiß, nicht gerade mein bester Vergleich... schließlich wollte ich sie um ein Leben mit mir bitten, nicht um einige Sekunden oder Stunden. Doch ich wollte für immer auf dieser Bank sitzen und diesen einen Regenbogen - sie - betrachten. Sie heiratete mich. Wir liebten einander viele Jahre lang - und darüber hinaus, denn ich habe nie damit aufgehört. Sie war mein Regenbogen. Mein einziger.
Obwohl wir auch auf anderen Bänken hätten sitzen können, zog es uns immer zu dieser. Und so saßen wir hier und stundenlang betrachtete ich meinen Regenbogen."

Jetzt drehte er sich ihr ganz zu, stand auf und blickte über sie hinweg: „Sieh dich um."
Etwas in seiner Stimme bewegte sie dazu auch aufzustehen. Sie hatte gar nicht bemerkt, wann ihre Tränen versiegt waren.
Als sie sich umsah, wusste sie zunächst nicht, was er von ihr wollte. Rechts sah sie einige kleine Kinder spielen, weiter links zwei Männer die einen Kinderwagen schoben. Links konnte sie ein älteres Pärchen entdecken - der Mann war gerade dabei einer (vielleicht seiner) Frau in ihre Jacke zu helfen. Weiter hinten konnte sie ihre Nachbarin mit ihrem neuesten Freund sehen. Neben einigen Studierenden, Yoga-Gruppen und Kindern, liefen auch einige ihres Alters herum oder setzten sich auf Picknickdecken oder Jacken zum reden, essen oder lachen.
„Siehst du das Blumenbeet dort vorne? Mit den zarten Vergissmeinnicht?" , fragte er sie. „Ja, dort wäre ich letzte Woche beinahe hinein-geflogen" , antwortete sie kleinlaut.
Er nickte. „Ich weiß. Ich war auch da. Ich habe euch beide gesehen. Du hättest fast die schönen Blumen zerknickt, doch dein Begleiter hat dich gerade noch zu fassen bekommen."

Nun erinnerte sie sich auch. Sie hatte den alten Mann schon häufiger hier gesehen. Auch damals auf der anderen Seite der Vergissmeinnicht. „Das war mein bester Freund... er hat mich gefangen. Wir kennen uns schon ewig, er begleitet mich immer auf dem Weg zum Café meiner Eltern, weil der Comic-Buchladen gleich nebenan ist. Aber was hat das mit Ihrer Erzählung zu tun?"
„Liebe ist so bunt wie ein Regenbogen. Sie zeigt sich auf verschiedenste Arten - manchmal ist sie gänzlich unbemerkt. Einige haben das Glück ihr mehrfach zu begegnen, denn sie verschwindet nie. Sie zeigt sich nur immer wieder anders. Um sie sehen zu können, muss man manchmal die Perspektive wechseln. Ich bin immer nur zu dieser Bank und habe darauf gewartet meinen Regenbogen wiederzusehen. Ich habe mich entschieden. Hast du dich schon entschieden?"
„Wofür denn?"
„Ob du einen weiteren Regenbogen sehen wirst."
„Wie kann ich denn entscheiden, ob ich einen sehen werde?! Wenn, dann würde ich gerne weitere sehen."
„Du musst dich entscheiden hinzuschauen. Am Boden wirst du keinen sehen können. Sieh mit deinem Herzen... wechsle die Perspektive."
Sie waren zu der Bank neben den Vergissmeinnicht gelaufen. Hier hatte sie sich lachend nach dem beinahe-Sturz hingesetzt - mit ihrem Retter.
„Öffne dein Herz - vielleicht spürst du es ja."
„Was spüren?"
„Dass du noch immer lieben kannst."

Der Park war so schön, wie an unserem letzten Tag dort.
Ich habe dich gesehen, meine Liebe.
Ich habe ihr erklärt, was du mir damals erklärt hast. Ob sie sich schon entschieden hat?
Ich schreibe dir morgen nachdem ich bei unseren Enkeln war.
Ich liebe dich, mein Regenbogen.

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