Der eisige Wind riss die letzten, braunen Blätter von den kahlen Ästen und fegte sie in den Dreck der regennassen Straßen. Man konnte kaum einen Schritt gehen, ohne sich in einer der riesigen Pfützen die Schuhe aufzuweichen. Die ganze Welt schien in Grau gehüllt, wartend, bis der Winter einbrach und das Elend unter seiner weißen Decke verbarg.
An ebendiesem trostlosen Morgen, im Schimmer der Dämmerung, sah man eine Gestalt durch die Gassen der Stadt huschen. Das heißt, man hätte sie gesehen, wäre man an diesem Herbsttag schon in der Morgendämmerung auf den Beinen gewesen. Man hätte schon von Weitem gehört, wie die nackten Füße der Gestalt durch die Pfützen am Straßenrand klatschten. Und man hätte gewusst, dass diese Gestalt, unter einem großen Umhang verborgen, sich offenbar wenig darum scherte, ob sie bemerkt wurde oder nicht. Sie hatte es einfach nur eilig. Der zerrissene Saum ihres Umhangs schleifte im Dreck, genau wie das darunter hervorblitzende Kleid, an dem kaum ein Fitzelchen Stoff war, das ursprünglich zu diesem Stück gehört hatte. Überall Flicken und Löcher, die den mageren Körper dieser Frau nur notdürftig verhüllten. Und doch, wäre dieses Kleid nicht gewesen, die nackte, dreckige Haut stattdessen sauber und die dicke, verfilzte Mähne gewaschen und gekämmt, hätte man die Frau tatsächlich als hübsch bezeichnen können.
Sie war höchstens zwanzig, mit wunderschönen Locken und einem Ausdruck in den dunklen Augen, der Bände sprach. Sie hatte viel erlebt, zweifellos. In ihrem kurzen Leben musste sie schon so viel Elend ertragen haben, wie nur wenige Menschen auf dieser Welt. Und trotzdem sprühte ihr Blick vor Mut. Mut und einer Leidenschaft, wie man sie nur selten fand. Diese Frau hatte sich noch nicht aufgegeben, so viel stand fest. Sie war bereit zu kämpfen.
Mit ihren dürren Fingern – fahl wie Papier – drückte sie ein Bündel an ihre Brust. Unzählige Lagen Stoff, die dieselbe Farbe hatten wie die nassen, glitschigen Blätter auf dem Pflaster umhüllten ihr kleines Geheimnis. Konnte man nicht durch die Augen dieser Frau sehen, war es unmöglich, zu erraten, was sich darunter verbarg. Doch die prüfenden Blicke der Frau, die Liebe und der Schmerz, die ihren Blick gleichermaßen erfüllten, sprachen eine eigene Sprache.
Geräuschlos huschte sie durch die schlafende Stadt, einem unbekannten Ziel entgegen. Ihr Weg führte sie durch verworrene Gassen, Schleichwege, über Treppen und Brücken, bis sie schließlich stehenblieb.
Die Straße sah aus wie hunderte andere in dieser Stadt. Häuser reihten sich dicht an dicht, manche kerzengerade und hoch wie Felsen, andere krumm und schief wie buckelige Frauen. Dazwischen verlief eine unebene, pfützenübersäte Pflasterstraße, gerade einmal so breit, dass zwei schmale Fuhrwerke aneinander vorbeipassten.
Das Haus, vor dem die Frau stand, stach nicht aus der Menge. Es hatte zwei Stockwerke, bot also Platz für eine sechsköpfige Familie. Das ehemalige Weiß des Fachwerks war von Wind und Wetter bereits in ein dreckiges Graubraun verwandelt worden und die Wände standen leicht schief. Die Augen der Frau wanderten an den Fenstern entlang – kleine Fenster mit niedlichen Spitzengardinen, die ein schöneres Innenleben vermuten ließen als der Rest des Hauses. Hinter keinem dieser Fenster brannte Licht und nach einigen Minuten, die sie in der Mitte der Straße stand und das Haus anstarrte, wusste sie auch mit Gewissheit, dass keiner seiner Bewohner auf den Beinen war.
Vorsichtig ging sie einige Schritte auf den Eingang zu – eine schlichte Steintreppe, die in drei Stufen hinauf an die dunkle Haustür führte. Auf der letzten Stufe blieb sie stehen, blickte unschlüssig an der schiefen Fassade nach oben und warf zuletzt einen Blick auf das Bündel, das immer noch in ihrem Arm lag. Zärtlich schoben ihre Hände die Stofflagen beiseite, bis ein winzig kleiner Kopf zum Vorschein kam.
Friedlich schlafend lag der Säugling in ihrem Arm. Ihr Blick verharrte eine Weile auf ihm und Trauer stand in ihren sonst so furchtlosen Augen. Federleicht streiften ihre Fingerspitzen die Wangen des kleinen Mädchens. Dann, ganz langsam, senkte sie ihren Kopf über das kleine Ding in ihrem Arm und hauchte ihm einen Kuss auf die Stirn.
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Die Hexenkönigin
FantasyEvangeline und Conan finden keine Ruhe. Der Angriff auf Morrigans Herrschaft hat nicht nur die Königin selbst, sondern ganz Ciaora erschüttert. Während sich die Gefährten auf einen weiteren Kampf vorbereiten, wird allerdings klar, dass Morrigan nich...