Was bedeutet es zu fühlen?

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Gib mir einen Grund. Einen Grund es nicht zu tun. Welcher Gedanke könnte mich denn davon abhalten? Etwa das unsere Geschichte ein gefundenes Fressen für die Medien wäre und du für immer hinter Gittern landen würdest? Oder das du dich dein Leben lang verfluchst, weil du auch mich hast entkommen lassen?

Seien wir ehrlich. Du wirst dafür sorgen, dass Ich kein Gab bekomme, so wie es auch für JJ keines gab und das niemand unangenehme Fragen stellt. Denn es wird ohnehin niemanden interessieren, dass sich mal wieder ein Mädel von der Brücke gestürzt hat. Es wird genauso sein wie damals. Ich könnte jetzt auch einfach so verschwinden und niemanden außer dich würde es kratzen, also warum sollte ich dem Ganzen nicht gleich ein Ende setzten?

Du sagst also ich solle mir mal überlegen was ich da sage, schreibe und wen ich verletze. Und gleichzeitig meinst du, ich würde dein Nicht-Antworten zur absoluten Grausamkeit sterilisieren?! Weißt du was ich denke?

Du Arschloch! Sag mir nicht was ich fühlen und denken sollte! Denn verdammt, da ist nichts mehr, dafür hast du gesorgt! Nichts was als Gefühl überlebt haben könnte! Du hast selbst gesagt das es vollbracht ist.

„Helfen" nanntest du es damals, als du mir diese Tabletten und die Klingen zum Geburtstag geschenkt hast! Sieh hin, sieh mich verdammt nochmal an und sage wie gut es mir getan hat! Aber du kannst es ja nicht ertragen mich so zu sehen. Nach all der Zeit hast du mich endgültig an meinen eigenen Abgrund getrieben, um jetzt darüber zu klagen, wie unansehnlich mein Körper ist und wie unerträglich deine Trauer ist, dass ich zu JJ's Ebenbild wurde.

Du dreckiges Miststück! Sei ein Mann und schaue an was du getan hast! JJ und ich trugen diese, deine Narben. Etwas zu fühlen, das wolltest du mir zeigen aber du hast unsere Körper nur für deine Zwecke genutzt. Sie hatte sich noch gewehrt, während ich unter ihren Schreien und deinem Grinsen schon starb.

Wenn ich schon mal darüber nachdenke wurde uns eigentlich alles stehts geraubt. Die Welt kannte keine Liebe und keine Gnade. Alles zerstörte sie mit ihrer Gier und wenn jemand von uns seinen Mund öffnete wurden wir sogleich zum Schweigen gebracht.

Weißt du, ich habe sie gesehen da auf der Brücke. Meine JJ, wie sie da stand und in den schwarzen Abgrund vor ihr blickte. Ihre Augen waren leer und der Glanz ihrer Seele längst aus diesem Körper gewichen. Die schon fast weiße Haut mit Narben überzogen und das dunkle Rot, dass unaufhörlich über ihre Arme floss. So sah sie mich ein letztes Mal an, bevor sie für immer in der Dunkelheit hinter diesem Geländer verschwand.

Du wusstest genauso gut wie ich, warum sie in diese kalten Fluten fiel. Doch statt hinzusehen und es zu erkennen trauertest du nur um den Verlust deiner Puppe und schenktest mir deine ganze Aufmerksamkeit. In dieser Zeit dachte ich, ich könnte nicht noch mehr von meiner selbst verlieren, doch ich lag so falsch. Du zeigtest mir, was es heißt Schmerzen, Hoffnungslosigkeit und Verzweiflung zu spüren. Ich lernte die Gefühle kennen, die sie in sich getragen und versucht hatte sie zu verstecken und jene, die sie umbrachten. Stück für Stück ermordetest du meine Seele und machtest mich zu deiner neuen Puppe um JJ zu ersetzen.

Jetzt stehe ich hier, auf ihrem Platz und du stehst dort, wo ich sie das letzte mal gesehen hatte. Nun verstehe ich es, alles. Da ist nichts mehr was ich fühlen könnte. Kein Schmerz, keine Trauer, kein Scharm, keine Sehnsucht, nicht einmal die Kälte des Betons unter meinen nackten Füßen spüre ich. Mein Kopf ist in Dunkelheit gehüllt, mein Herz ist tot und mein Körper am Ende seines Weges. Hier auf diesem Flecken ist das letzte was ich meiner Schwester nachempfinden kann: Ich, ich fühle mich. Ich fühle mich – nur in diesem Moment, indem ich nicht fühle. 

Ersetzte PuppeWo Geschichten leben. Entdecke jetzt