Eine waldige Kleinstadt am Meer klang zuerst romantisch und mancher mochte sie sich mit einem langen ruhigen Sandstrand und sanften Wellen im Abendrot vorstellen. Im Sommer würden dort Festivals stattfinden, Bars geöffnet und Getränke verkauft werden, die Besuchern das Gefühl gaben sich im Urlaub auf Hawaii zu befinden und dass der Strand ohnehin Kalifornien Konkurrenz machte. Es würden kleine Stände an der Promenade stehen, die bunte Ketten, T-Shirts mit dem New Yorker Wappen und kleine Souvenirs verkaufen, direkt daneben weibliche Teenager in Chucks, kurzen Jeansshorts, die die gebräunten Beine Preis gaben, und Tops, über denen zahlreiche Ketten lagen, manche mit Muscheln, die sie soeben in einem der Souvenirshops gekauft hatten. Und im Herbst, wenn die kalte Meereslauft einbrach, würde sich der Wald in den schönsten Rottönen färben, die ganz an die Wälder Kanadas erinnerten. Es würde an die kleinen Städte auf Vancouver Island erinnern, mit kleinen Dinern, mit Holzverkleidung und Bänken aus ganzen Baumstämmen, während im Fernseher über der Theke eine Sportsendung lief und wenn man draußen an der Küste stand, dann würde man weit entfernt die tiefen Töne der vorbeiziehenden Wale hören. Vor jeder Haustür würden Kürbisse und jegliche anderen Dekorationen stehen, die an das nahende Halloween erinnern sollten. Die Kinder würden „Charlie Brown und der große Kürbis" schauen, während Teenager wilde Partys schmissen und Alkohol aus Bowle trinken, in der Gummiwürmer und -augen schwammen.
So ganz stimmte das nicht. Der Wald stimmte zwar, ebenso die Mädchen im Sommer, auch der schöne herbstliche Wald, ebenso die kleinen, wenn auch verschlafenen, Diner und die Tradition, was Halloween anging. Vielleicht, jedoch nur sehr selten, hörte man auch in mancher Saison die leisen Geräusche der Wale, jedoch hatte Mary sie noch nie gesehen, geschweige denn gehört. Ihr Großvater und einige Freunde ihres Vaters, die sie im Diner häufig sah, in dem sie arbeitete, hatten ihr von ihnen erzählt. Dass sie sie während ihren Angelausflügen gesehen hatten, wie sie kurz auftauchten und anschließend wieder verschwanden mit nichts als einer großen Flosse, die herausragte, das Wasser aufwirbelte und dann ebenfalls wieder ins Wasser tauchte.
Die Vergleiche mit Kalifornien und Kanada waren ohne Zweifel übertrieben. Nichts im Sommer erinnerte an die kalifornischen Strände, nicht mal Bars mit sommerlichen Getränken gab es, nicht mal Sand, denn der Strand bestand aus Felsen und kleinen Kieselsteinen. Die Diner hatten zwar eine Holzverkleidung, doch die Farbe bröckelte ab und das Holz darunter war modrig. Der Besitzer dachte nicht einmal daran sie zu erneuern. Verschlafen... Für sie war dies die richtige Beschreibung der Kleinstadt.
Am Fenster in der Ecke des Diners saß der Besitzer und Arbeitgeber von ihr mit einer Gruppe von Männern unter denen sie ebenfalls Freunde ihres Vaters sehen konnte. Sie unterschieden sich nicht viel voneinander. Der Erste besaß einen Schnauzer über den Lippen, trug ein Holzfällerhemd, wo oben einige Brusthaare hinausragten, und eine Kappe mit dem Logo irgendeiner Football-Mannschaft. Darauf folgten Männer, die sich nur durch eine Angelweste, einen längeren oder kürzeren Bart unterschieden oder durch das Bier, das sie bestellten. Manch einer bevorzugte ein helleres Bier und passend dazu trug er einen kürzeren Bart, hellere Haare und einen Ohrring am Ohr, während ein anderer stets Dunkles trank und sich nicht die Mühe machte die Jeans mit dem Fleck gegen eine Saubere zu wechseln.
„Hey, Mary, Süße! Bringst du uns noch 'n Bierchen?"
Es war ihr Arbeitgeber, der zu ihr winkte und damit auch bewirkte, dass sich die ganze Gruppe zu ihr umdrehte und sie mit manchen Blicken so musterte, sodass sie schnell lächelte, nickte und dann zu den Biergläsern griff. Im Hintergrund lief ein Footballspiel und als plötzlich aus dem Fernseher lauter Jubel drang, sprang in der gleichen Lautstärke die Gruppe Männer auf und brüllte euphorisch. In diesem Moment lud sie die vollen Gläser auf das Tablett. Ihr Beine zitterten leicht, als sie das enge T-Shirt mit dem Ausschnitt etwas höher zog und ihre Schürzte richtete, damit man nicht das Ergebnis von ein paar zu vielen Schokomuffins sah, was sie sich in so einem engen T-Shirt unwohl fühlen ließ. Sie war nicht übergewichtig, keineswegs, aber schlank war sie hingegen auch nicht. Wenn sie im Sommer eine Shorts anziehen wollte, dann sah man, wie sich ihre Oberschenkel berührten und wenn sie einen Rock trug, der die Fülle ihrer Schenkel verbarg, musste sie am Ende des Tages die wunden Stellen an den Innenseiten ihrer Oberschenkel ertragen, die wegen der aneinanderreibenden Haut beim Gehen entstanden sind. Es ist nicht sehr selten vorgekommen, dass ihr Arbeitgeber sie im Sommer einen Rock tragen ließ, der nicht nur kürzer war als sie es gewohnt war, sondern auch enger. Jedes Mal, wenn sie sich dann bücken musste, war sie sich sicher, dass hinter ihr sich Männer umdrehten und ihre Unterwäsche unter dem Rock betrachteten, weil ihr Rock hochgerutscht war.
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SILVER FEATHER
RomanceDie Rückkehr in ein unwillkommenes Zuhause und ein täglicher Kampf gegen Vorurteile und Ablehnung sind nur der Anfang von Silvans schwieriger Zeit in der hektischen Metropole Chicago. In einer Welt, die ihn scheinbar abstoßen will, hält Silvan an se...