Charlotte Engel öffnete leise die Schiebetür und trat in das Zimmer. Ihre weißen Turnschuhe quietschten leicht, als sie zu dem Bett ging, das neben dem breiten Fenster stand. Tagsüber hatte man von hier eine wunderschöne Aussicht auf den Park, der sich direkt an das Krankenhaus anschloss. Diejenigen Patienten, die nicht bettlägerig waren, hatte man in den letzten Tagen sehr oft alleine oder zu zweit über die grüne Wiese spazieren sehen. Jetzt im Juli waren die Temperaturen noch nicht so drückend, sodass die meisten Menschen dies nutzen, um nicht den ganzen Tag in ihren Zimmern zu verbringen.
Der Patientin in diesem Raum war dies nicht möglich.
Nach einem prüfenden Blick auf die leuchtenden und piepsenden Monitore, die an der Wand standen, setzte Charlotte sich auf die Bettkante. Wenn sie ganz still war und sich nicht bewegte, konnte sie unter den mechanischen Geräuschen schwache Atemzüge hören.
Nein, verbesserte sie sich selbst, keine Atemzüge. Das Zischen einer weiteren Maschine, die den Körper beatmete.
Bis vor wenigen Stunden war die Familie des Mädchens hier gewesen. Der Nachttisch quoll über von persönlichen Dingen, die die Eltern mitgebracht hatten: Ein CD-Player mit mehreren CDs, bunte Kinderbücher. Der große Bruder war am Vormittag mit seiner Freundin vorbeigekommen und hatte einen ganzen Strauß Sonnenblumen mitgebracht. Charlotte hatte ihm eine Vase gebracht und erfahren, dass Lisa die Blumen wegen ihrer gelben Farbe besonders liebte.
Lisa.
Unter der weißen Decke war der schmächtige Körper kaum auszumachen. Nur der Kopf und ein Stück vom Oberkörper waren zu sehen. Charlotte beugte sich sachte nach vorne, um das Gesicht des Mädchens im silbrigen Mondlicht, das durch die Fenster fiel, besser erkennen zu können. Rote Locken rahmten die schmalen Wangenknochen und das abgerundete Kinn. Die geschwungenen Lippen waren leicht geöffnet; hinter den geschlossenen Augenlidern zuckten die Pupillen.
Die Vierjährige träumte.
Charlotte hoffte, dass es schöne Erinnerungen waren, denen das Mädchen im Moment begegnete. Vielleicht tollte sie gerade mit Sam, ihrem zweijährigen Golden Retriever, über eine blumenübersäte Wiese im Garten hinter dem Haus, in dem sie mit ihrer Familie lebte. Gelebt hatte, korrigierte die Frau sich traurig. Bis vor anderthalb Monaten, wo die Krankheit so schlimm geworden war, dass sie hierher eingewiesen werden musste. Die Ärztin erinnerte sich, wie sehr Lisa in den Armen ihrer Mutter geweint hatte, als ihr klar geworden war, dass sie nicht wieder mit zurück nach Hause konnte.
Ein dumpfes Geräusch lenkte Charlotte ab. Lisa bewegte sich einen Moment unruhig, bevor ihr Herzrhythmus sich wieder verlangsamte. Zum zweiten Mal warf die Frau einen Blick auf die Monitore, die Herzfrequenz und Atmung der Vierjährigen überwachten. Es war mittlerweile ein Leichtes geworden, die mechanischen Töne auszublenden. Wenn man jeden Tag auf der Station für Krebskranke arbeitete, gewöhnte der Körper sich irgendwann an alle Dinge.
Charlotte Engel war sich nicht sicher, ob ihre Persönlichkeit, ihre Seele, auch irgendwann diesen Status der Gewöhnung annehmen würde. Sie hoffte es nicht.
Sie erhob sich und umrundete das Bett. Lisas Teddy lag auf dem Boden; sie hatte ihn im Schlaf von ihrem Kissen gestoßen. Es war ein weiches Kuscheltier von vierzig Zentimetern Größe, mit weißem Fell, einer schwarzen runden Nase und braunen Glasaugen. Charlotte setzte ihn zurück auf das Kissen, neben den Kopf des Mädchens.
Plötzlich überkam sie der Drang, dem Stofftier zuzuflüstern, das kleine Kind zu beschützen.
Lisa hatte einen Tumor von der Größe einer Walnuss in ihrem Kopf, der die Sehbahn abklemmte. In den letzten Wochen war sie langsam erblindet; im momentanen Zustand besaß die Vierjährige eine Sehstärke von etwas mehr als zwölf Prozent. Charlotte wusste, wüchse der Tumor weiter, würde Lisa zur Gänze erblinden.
Aber das war nicht alles.
Die heutigen Röntgenaufnahmen hatten die schlimmsten Befürchtungen der Chefärzte bestätigt. Der Krebs hatte angefangen, Metastasen zu bilden und diese zu streuen. War es vorher schon beinahe unmöglich gewesen, den Malignom mit Chemotherapien zu zerstören, kam dies nun nicht mehr in Frage. Ein solcher Eingriff in ein menschliches Gehirn – dazu in das eines so jungen Kindes – würde mit sehr großer Wahrscheinlichkeit nicht ohne negative Folgen vonstattengehen...
Genau diese Tatsache hatte der Chefarzt der Abteilung für Krebserkrankungen Lisas Eltern mitgeteilt, als sie heute – gestern, berichtigte Charlotte sich selbst in Gedanken nach einem Blick auf ihre Armbanduhr – hier gewesen waren. Alles, was jetzt noch getan werden konnte, war, zu warten...
Charlotte hatte sich für den Beruf auf einer Krebsstation entschieden, weil sie mit den Menschen, die hier lebten und litten, zusammenarbeiten wollte. Ihr Medizinstudium hatte sie mit der Überzeugung und dem Wunsch angetreten, diesen Menschen zu helfen, mit allen Mitteln, die in ihrer Macht standen. Dies war familiär bei ihr begründet: Die Familie ihres Vaters war zur Gänze an verschiedenen Arten des Krebses verstorben. War den Ärzten Erfolg beschieden, empfand auch Angelica, sofern sie den Patienten persönlich kannte, eine große Freude und Erleichterung.
Leider gab es viel zu viele Tage, an denen die Ärztin mitbekam, wie ihre Kollegen Familienangehörigen die traurige Nachricht mitteilen mussten, dass es für ihre Liebsten keine Hoffnung mehr gab.
Charlotte Engel wusste, sie hatte kein Recht, hier zu sein. So sehr sie auch Mitleid mit der Familie empfand – Lisa war nicht ihre Tochter. Sie war eine Patientin. Eine von vielen.
Und doch ging das Schicksal dieses Mädchens ihr näher als das der anderen hier behandelten Menschen.
Niemand sollte auf so eine Art und Weise leben müssen. Angeschlossen an Maschinen. Unfähig, sich zu bewegen. Zu sehen. Selbst zu atmen.
Du hast die Möglichkeit, das zu beenden.
Charlotte sah über die Schulter. Die Tür war verschlossen. Außer ihr und Lisa befand sich niemand in dem Zimmer. Sollte das Mädchen...? Die Ärztin wandte den Kopf und setzte sich wieder auf die Bettkante. Beugte sich so weit vor, bis sie im Mondlicht jede Einzelheit des jungen und so unschuldigen Gesichts erkannte.
Lisa schlief tief und fest. Die Pupillenbewegung hatte sich ein wenig verstärkt, aber hatte sie im Schlaf gesprochen?
Du weißt, dass das Mädchen schläft. Ich habe zur dir gesprochen.
Eine Bewegung lenkte Angelicas Augen zum Kopfende des Bettes. Dort saß, genau über Lisas Kopf, eine weiße Schleiereule mit goldbraunem, geflecktem Gefieder. Die kleinen schwarzen, runden Augen in dem hellen herzförmigen Gesicht starrten die Ärztin durchdringend an. Vor Staunen konnte Charlotte sich für mehrere Sekunden nicht bewegen.
Wie kam eine Eule in das Krankenhaus, in dieses Zimmer?
Je länger sie jedoch einander ansahen – denn der Vogel erwiderte den Blick, ohne einmal zu blinzeln -, desto erkenntlicher wurde es, dass die Eule nicht wirklich dort auf dem Bettgestell sitzen konnte. Charlotte sah die weiße Wand und einen Teil der langen, semitransparenten Schläuche durch ihren Körper. Konnte es sein, dass es lediglich ein Trugbild ihres Gehirns war, ausgelöst durch einen langen anstrengenden Tag, angefüllt mit Krankheit, Hoffnung und Verzweiflung angesichts des Todes?
Ich bin wirklich, Angelica. Wirklicher, als dein Glaube es jemals sein kann.
Was hat mein Glaube mit diesem Vogel zu tun?
Ich bin kein Vogel. Das ist nur eine meiner vielen Gestalten, die ich unter den Menschen annehme. - Sag, Angelica, glaubst du an Gott?
Die Ärztin erhob sich irritiert und trat an das Fenster. Blickte einen Moment in die Nacht. Immer noch war sie davon überzeugt, einer Sinnestäuschung zu erliegen. Die Schleiereule konnte nicht real sein.
Und selbst, wenn dieser Vogel – auf eine ihr unerklärliche Art und Weise – wirklich dort auf dem Bettgestell saß... Tiere konnten nicht sprechen!
Und was hatte das Ganze mit Lisa zu tun?
Das Mädchen ist der Grund meines Erscheinens. - Weißt du immer noch nicht, wer ich bin?
Charlotte Engel drehte sich nicht um. Ihr Betreten dieses Zimmers war absurd gewesen. Auch, wenn Lisas Schicksal sie berührte und zutiefst erschütterte, hatte sie kein Recht darauf, hierher zu kommen, um die Vierjährige im Schlaf zu betrachten. Ihre Familie sollte hier sein, um dem Kind in ihren dunkelsten Stunden beizustehen.
Lange würde Lisa nicht mehr leben. Nicht bei der Geschwindigkeit, mit der der Tumor streute.
Lisa kann heute Nacht von ihrem Leid erlöst werden. Du hast Mitleid mit ihr, ich spüre das deutlich. Es liegt in deiner Macht, dieses Martyrium zu beenden.
Sie sollte... Nein! Charlotte erzitterte allein bei dem Gedanken. Als Ärztin handelte sie nach dem Eid des Hippokrates, der ausdrücklich untersagte, einem Patienten bei einem Suizidversuch zu unterstützen oder selbst, auf Wunsch der Person hin, diese mit Medikamenten zu einem verfrühten Tod zu verhelfen. Solch eine Handlung wurde als Beihilfe zu Mord – oder sogar Mord – angesehen.
Sie ging zum Bett zurück und setzte sich vorsichtig auf die Bettkante, die Eule nicht aus den Augen lassend. Lisa konnte es schaffen. Sie konnte den Krebs besiegen und wieder gesund werden. In ein paar Monaten würden sie wieder mit ihrem Golden Retriever durch den Garten toben.
Du belügst dich selbst. Du weißt, dass sie im Sterben liegt. Warum wäre ich sonst hier? Es liegt an dir, Angelica, wie Lisa dieses Leben verlässt. Du kannst sie leiden lassen. An diese Maschinen angeschlossen wird sie langsam sterben, qualvoll. Es wird Stunden dauern. Vielleicht Tage. Oder du erlöst sie von ihren Schmerzen.
Sie wusste, dass dieser Vogel – was für ein Wesen es auch immer war – recht hatte.
Lisa würde nicht mehr lange leben.
Das, was sie seit fast zwei Monaten hier durchmachte, war ein schreckliches Dahinvegetieren.
Sie lebte nur noch, weil eine Maschine ihren Körper beatmete.
Trotzdem kam es für Charlotte nicht in Frage, über diese Option auch nur nachzudenken. Sie war Ärztin geworden, um Menschen das Leben zu retten, soweit es ihr möglich war. Nicht, um sie zu töten.
Du ermordest sie nicht. Du befreist sie. Denk darüber nach, Angelica: Wärst du gerne an Lisas Stelle? Wie würdest du dich fühlen, angeschlossen an elektronische Geräte? Umgeben von deiner Familie, die du nicht sehen kannst? Erinnert an einen Hund, mit dem du nie wieder spielen kannst? Ihr Menschen habt die Intensivrespiratoren erfunden, um einen Körper am Leben zu erhalten. Aber wisst ihr auch, was Lisa in diesem Moment durchmacht, wie es ihr geht? Was sie denkt und fühlt?
Es ist meine Plicht als Ärztin, meinen Patienten die Möglichkeit zu geben, sich zu erholen. Die Medizin macht jeden Tag größere Durchbrüche im wissenschaftlichen Bereich. Wir sind bereits in der Lage, die meisten Krankheiten zu heilen -
Das beantwortet meine Fragen nicht. Die Eule drehte ihren Kopf, um Charlotte zu fixieren. Sie erschauderte unter dem Blick. Dieses Kind liegt seit mehr als vierzig Tagen in diesem Bett, verkabelt mit Motoren, die jede Temperaturschwankung ihres Körpers aufzeichnen. Wie lange wird es noch dauern, bis ihr Sehnerv endgültig abgeklemmt ist und sie gänzlich erblindet? Kannst du ermessen, was ewige Dunkelheit für ein Kind bedeutet? Wie schlimm es für Lisa sein wird, niemals wieder die Gesichter ihrer Eltern und ihres Bruders zu sehen?
Ohne diese ganzen blinkenden und piepsenden Maschinen würde Lisas Körper den Kampf gegen den Krebs aufgeben. Du weißt, dass es keine Möglichkeit gibt, die Metastasen aus ihrem Gehirn zu entfernen. Warum wehrt ihr Menschen euch gegen das Unvermeidliche?
Sie ist so jung, dachte Charlotte verzweifelt. Sie sah auf den Teddy. Im Schlaf hatte Lisa nach ihm gegriffen, hielt ihn in ihren Armen. Klammerte sich an ihm fest. Sie hat noch nichts erlebt. Warum muss sie sterben, während andere Menschen alt werden können?
Ihr Menschen werdet niemals verstehen, dass ihr keinen Einfluss auf die Natur nehmen könnt. Egal, wie weit ihr forscht und was ihr erfindet. Es gibt keinen tieferen Grund, warum sich gerade in Lisas Kopf ein Tumor entwickelt hat. Warum könnt ihr den Tod nicht akzeptieren, wenn ihr nichts mehr dagegen ausrichten könnt? Reicht es nicht, dass ihr – mit immer raffinierteren Methoden – versucht, mich zu betrügen?
Charlotte funkelte die Eule an. Öffnete den Mund, um wütend zu protestieren – aber brachte kein Wort heraus. Zum einen, weil sie Lisa nicht wecken wollte.
Auf der anderen Seite wusste sie tief in ihrem Inneren, dass dieses seltsame Wesen recht hatte. Die Menschen hatten sich in den Kreislauf von Leben und Tod eingemischt. Hatten Wege gefunden, Kranke wieder gesund zu machen, die ohne Medikamente, Therapien und immer fortschrittlichere Maschinen sterben würden.
Und wer wusste schon, ob Lisa in ihrem jetzigen Zustand Schmerzen oder Kummer empfand? Sie konnte nicht gefragt werden, ob sie weiterhin bereit war, sich all dem auszusetzen. Wie konnte man sie auch fragen? Sie war zu jung, um die Konsequenzen ganz zu verstehen. Dass sie sterben würde.
Du willst nicht, dass dieses Kind leidet. Ich sehe es dir an, ich kann es in deiner Seele lesen. Warum erlöst du sie dann nicht von ihren Qualen? Ein paar Sekunden, ein paar gedrückte Knöpfe... und alles ist vorbei.
Das wäre Mord! Ich bin Ärztin geworden, um zu heilen. Nicht, um zu töten...
Du würdest Lisa einen frühen und gnädigen Tod schenken. Sie wird sterben, auch wenn du nichts tust. Aber es wird nicht schnell gehen. Der Tumor wird ihren Sehnerv komplett abklemmen. Sie wird erblinden. Was wird danach passieren? Wird sie ihre Fähigkeit zu sprechen einbüßen? Wird sie sich nicht mehr bewegen können? Wird sie überhaupt noch wissen, wer sie ist? Wird sie ihre Familie noch erkennen können? Du bist die Ärztin; sag du es mir!
Sie wird sterben, dachte Charlotte verzweifelt. Sie schluckte, und konnte ihre Augen doch nicht abwenden. Die Metastasen werden sich ausbreiten und größer werden. Und Lisa wird sterben; am Ende wird sie nicht einmal mehr ihre Familie erkennen, die um ihr Bett steht und vor Trauer verzweifelt...
Aber sie konnte die Vierjährige doch nicht ermorden. Denn die Geräte abzustellen, würde nichts anderes bedeuten.
Du kannst dich dafür entscheiden, sie von ihrem jetzigen Zustand zu erlösen. Frag dich selbst, Angelica: Würdest du so leben wollen? Würdest du nicht wollen, dass jemand dich erlöst und dir deinen Frieden zurückgibt?
Wieder erhob die Frau sich und trat an das Fenster. In ihr jagten sich die Gedanken, so schnell, dass es für sie beinahe unmöglich war, sie zu ordnen oder zu fassen.
Wenn sie daran dachte, selbst an Maschinen angeschlossen in einem Bett zu liegen, sich nicht selbstständig bewegen zu können, aus Schwäche; nicht atmen zu können, weil ihr Körper beinahe sämtliche Funktionen eingestellt hatte... Mit Krebs in ihrem Inneren zu leben, einem bösartigen Tumor, der sämtliche Nerven abklemmte und sich immer weiter ausbreitete, bis irgendwann ihr Herz kollabierte...
Charlotte wusste: Würden Ärzte ihr sagen, dass es keine Chance auf Heilung gab, würde sie sich niemals an Maschinen anschließen lassen. Sie würde den Tod akzeptieren und ihn im Kreis ihrer Familie erwarten – fern von sterilen Krankenzimmern, Ärzten und endlosen Chemotherapien.
Sie würde das tun. Aber sie verstand auch die Konsequenzen, die eine solche Handlung hervorrufen würde. Lisa würde es nicht verstehen. Dazu war sie einfach zu jung.
Viel zu jung, um solch grausame Dinge durchzumachen.
Es wäre eine Erlösung. Für sie, und für ihre Familie. Kein Arzt der Welt kann ihr Leben jetzt noch retten. Ich sehe in deinen Augen, dass du Lisa helfen willst. Beende ihr Leiden, indem du die Maschinen abstellst.
Die Ärztin wand sich innerlich. Sie wollte das nicht entscheiden. Wer war sie schon, dass sie über Leben oder Tod eines anderen Menschen bestimmen konnte?
Aber genau das war es, was die Menschheit tat, seit sie elektronische Geräte wie den Intensivrespirator erfunden hatte: Sie mischten sich in den ewigen Kreislauf von Leben und Tod ein. Um Menschen zu retten.
Aber war es manchmal nicht besser, das Unausweichliche zu akzeptieren und jemanden gehen zu lassen? Wie lange würde Lisa noch hier liegen, bis ihr Herz seine Tätigkeit einstellte? Wie lange, bis ihr Gehirn gegen so viele Metastasen ankämpfen musste, dass der Hirntod eintrat?
Charlotte wandte sich langsam wieder dem Bett zu. Die Eule war verschwunden; das Bettgestell, auf dem sie gesessen, leer. Zögernd setzte die Frau sich auf die Bettkante, ließ ihre Augen gründlich durch das beinahe dunkle Zimmer gleiten. War sie einer Illusion erlegen? Hatte sie sich das Gespräch eingebildet – oder hatte sie es die ganze Zeit mit sich selbst geführt?
Es spielte keine Rolle. Charlotte war Ärztin, verpflichtet, ihren Patienten zu helfen, soweit sie es vermochte. Aber an erster Stelle war sie ein Mensch, der Mitgefühl und Mitleid empfinden konnte.
Mehrere Minuten saß sie unbewegt an der Seite der kleinen Lisa und betrachtete sie. Dann griff sie langsam in eine Tasche ihres weißen Kittels und zog eine Spritze und einen kleinen Plastikbehälter mit einer durchsichtigen Flüssigkeit heraus. Sorgfältig zog sie das starke Narkotikum in das medizinische Instrument. Die dünne Nadel glitt mühelos in die weiche Kinderhaut an der kleinen Armbeuge. Lisa drehte ihren Kopf zur anderen Seite und umarmte ihren Teddy fester.
Charlotte Engel wartete einige Minuten, obwohl sie wusste, dass das Narkotikum sofort wirkte. Im Mondlicht sah sie auf das Mädchen hinab, bevor sie das Bett umrundete und zu den Geräten trat. Es bedurfte nur einer Handbewegung von ihr, um den Intensivrespirator abzustellen.
Sanft entfernte Charlotte Engel die Sauerstoffmaske von Lisas Gesicht und legte sie neben das Kissen. Sie wusste, dass das Mädchen nichts spürte. Sie würde immer tiefer in ihren Schlaf sinken, bis ihr Herz aufhörte, zu schlagen. In ein paar Minuten würde es vorbei sein.
Obwohl die Ärztin wusste, wie gefährlich es für sie war, sollte eine diensthabende Schwester ihren Rundgang machen und sie hier entdecken, blieb sie am Bett sitzen. Sah zu, wie die Atmung der Vierjährigen aussetzte. Sich der schmale und schmächtige Brustkorb unter der Decke ein letztes Mal hob und senkte.
Der Griff ihrer kleinen Hände lockerte sich, und der Teddy fiel mit einem leisen Geräusch auf den Boden. Die Monitore signalisierten das Ausbleiben der Herzfrequenz.
Charlotte bückte sich. Hob den Teddy auf und setzte ihn neben Lisas Kopf auf das Kissen. Dann verließ sie das Zimmer. Auf dem Flur war es dunkel, nur am anderen Ende, im Schwesternzimmer, brannte Licht. Während sie ging, fühlte Charlotte sich seltsam befreit. Sie wusste, was sie getan hatte. Sie war sich der Tatsache bewusst, dass sie einen Mord begangen hatte. Und doch empfand sie kein Entsetzen. Ein Teil von ihr wusste, dass es ein Akt der Gnade gewesen war, Lisa von dem Beatmungsgerät zu nehmen. Sie gehen zu lassen.
Sie war sich sicher, dass diese Gnade in jedem Menschen tief verwurzelt war. Niemand würde ein Kind – irgendeinen Menschen – auf eine solche Art leiden lassen. Und doch ließ man genau das geschehen. Weil zu viele Menschen Angst hatten. Angst vor sich selbst. Vor dem Fremden, was in jedem Einzelnen lebte, tief verborgen unter den Gesetzen und Normen der heutigen Zeiten.
Sie hatten Maschinen erfunden, um die Lebensspanne der Menschen zu verlängern. Um sie von Krankheiten heilen zu können. Aber in ihrem Bestreben, sich zu erheben und zum Herrscher über den Tod zu machen, hatten die meisten Menschen vergessen, dass es etwas gab, was sie nur zu leicht verlernt hatten. Was Ärzte gegenüber ihren todkranken Patienten nicht anwandten - weil es nicht dem entsprach, was sie geschworen hatten, nämlich Leben zu retten.
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Verrückte Fälle
HumorVerschiedenste OneShots und Kurzgeschichten über Auf Streife, Auf Streife die Spezialisten und Klinik am Südring. Was kann alles bei einem Zeltausflug schiefgehen? Und was passiert wenn die Spezialisten zusammen in den Urlaub fahren?