Kapitel 1 - Ägypten

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Der Spiegel vor ihm war alt. Das Gold an seinen Rändern war längst einem schmutzigem Braun gewichen und war auch schon leicht verkratzt. Der Spiegel an sich war jedoch klar wie eh und je.

So wie sie es alle waren. Die gleichen glatten Scheiben, die sein ausdrucksloses Gesicht zeigten. An manchen Tagen weinte es. In letzter Zeit immer öfter.

Der Raum, in dem der Spiegel und noch tausend andere hingen, war eines dieser typischen Arbeitszimmer mit Eichenholzdielen und einer Wand voller Bücher. Jedoch hingen in gewöhnlichen Arbeitszimmer keine Spiegel und schon gar nicht so viele wie hier.

Iris seufzte. Er wusste nicht, wann er das letzte Mal in diese Erinnerung getaucht war. Er wusste nur, dass sie schmerzhaft war. So wie so viele Erinnerungen, die hier hingen. Er war es so leid, sie alle noch einmal durchleben zu müssen. Aber wenn er nicht wollte, dass sie verblassten, musste er das. Warum er sie behalten musste, wusste er nicht mehr. Er wusste nur, dass die Antwort in irgendeinem dieser Spiegel verborgen war. Eine unsichtbare Macht brachte ihn immer wieder dazu, in die Spiegel zu tauchen. Je länger er versuchte sie zu ignorieren, desto stärker wurde dieser Drang, dieses Gefühl der Rastlosigkeit, solange bis er doch wieder vor einem der Spiegel stand. Widerwillig und das Gefühl der totalen inneren Zerstörung, das ihn jedes Mal mit voller Wucht erfasste, sobald er einen der Spiegel verließ, erwartend. Seine Erinnerungen, alle verwahrt in den Spiegeln. So bittersüß sie auch sein mochten, sie alle endeten mit dem Tod, der Menschen, die er in seiner Zeit an den unterschiedlichsten Orten, kennengelernt und liebgewonnen hatte. Seine Unsterblichkeit war ein Fluch, egal wie oft seine Erschafferin auch betonte, dass es ein Segen sei.

Dazu verflucht bis auf alle Ewigkeit Erinnerungen zu sammeln, und die Entwicklung der Welt zu dokumentieren. Iris hasste es. Wenn er nicht dazu gezwungen wurde, neue Erinnerungen zu sammeln, musste er seine alten noch einmal durchleben. Iris funkelte den Spiegel vor ihm böse an. Er wollte das nicht. Er wollte einfach nur weg. Wohin wusste er nicht, Hauptsache weg von diesem Ort, dieser Zeit und diesem Leben.

Der Drang in ihm wurde stärker, je länger er den Spiegel anstarrte. Dieses Etwas in seiner Brust, was ihm seine Erschafferin eingepflanzt hatte, das sicherstellte, dass er seine Arbeit erledigte. Iris konnte spüren, wie es ungeduldiger wurde, nicht mehr lange und es würde wieder anfangen ihn zu bestrafen. Zuerst würde der Schmerz kommen. Heiß, glühend und seine Brust versengend, wie rasender Zorn, würde es seinen Körper übernehmen und erst loslassen, wenn er in einer Erinnerung war. An manchen Tagen begrüßte er den Schmerz mit offenen Armen. Er war so viel besser als der andere Schmerz, der Schmerz, der tief aus ihm heraus hallte und sein ganzes Wesen einnahm.

Nach dem Schmerz würde das Wesen in seiner Brust seinen Körper übernehmen. Iris hatte bemerkt, dass es mit der Zeit dazu lernte. Die letzten Male hatte es einfach gleich seinen Körper übernommen. Es wusste, dass es mit den Schmerzen nicht mehr viel erreichen würde. Der Gedanke, es dem Wesen eins auszuwischen, veranlasste Iris fast dazu, sich besser zu fühlen. Jetzt gerade fühlte er es wieder. Wie es sich in seiner Brust dazu bereit machte, seinen Job zu übernehmen.

Iris schloss die Augen und zählte in seinem Kopf widerwillig bis drei. Dann streckte er die Hand aus und berührte die kalte und glatte Oberfläche des Spiegels. Trockener und heißer Wind begrüßte ihn, strich um ihn herum, wie eine Einladung. Iris spürte, wie sich bereits feine Sandkörner auf seine immer noch geschlossenen Augenlider niederließen. Er hörte ein Lachen. Zu seinem Erstaunen stellte er fest, dass es sein eigenes war. Frei von jeder Last und so glücklich...

Nun wollte er gar nicht mehr seine Augen aufmachen. Es war eine seiner ersten Erinnerungen. Die Hitze, der Sand, Iris wusste, dass er sich in Ägypten befinden musste. Am liebsten würde er sich einfach nur zusammenrollen, die Hände über den Ohren, und warten bis alles vorbei war. Jedoch trieb ihn das Wesen in seiner Brust dazu, die Augen zu öffnen.

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⏰ Letzte Aktualisierung: Apr 20, 2022 ⏰

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