Kapitel 1

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Es war Sommer und bereits am Morgen schon drückend heiß. Ohne das angenehme Lüftchen, das Becky ins Gesicht blies, wäre es an diesem Nachmittag auf der Terrasse nicht auszuhalten gewesen.

Sie lag im Liegestuhl und versuchte, sich auf das Buch in ihren Händen zu konzentrieren. Immer wieder spähte sie über die Lektüre hinweg zu ihrem Sohn Liam. Er hatte keine Lust auf Hausaufgaben und kaute unwillig auf seinem Bleistift herum.

„Deine Mathehausaufgaben erledigen sich nicht von selbst", erinnerte sie ihn sanft.

„Ist doch mir egal", schimpfte er, warf den Bleistift auf den Tisch und verschränkte trotzig die Arme vor der Brust.

Liam hatte schlechte Laune. Sie hatten nach dem Mittagessen einen unschönen Streit gehabt. Grund dafür waren die Turnschuhe, die sie ihm erst vor wenigen Wochen gekauft hatte und die jetzt auseinanderfielen. Seit er in die Schule gekommen war, hatten Becky drei Mal neue Turnschuhe kaufen müssen. Einmal weil sie zu klein wurden, zwei Mal, weil Liam nicht aufgepasst hatte und sie kaputt gegangen waren. Ein weiteres Paar konnte sie sich diesen Sommer nicht leisten.

Eine scharfe Erwiderung lag Becky auf der Zunge, doch sie sagte nichts. Hufgetrappel war zu hören. Das Haus, das sie mit ihrem Sohn und ihrem Vater bewohnte, befand sich am Rand der Whitethrone-Ranch. An ihrem Grundstück führte einer der beliebten Reitwege vorbei. Daher wunderte es Becky nicht, dass Walker Whitethrone sich ihnen näherte. Schon von weitem winkte er ihnen zu.

Becky seufzte. Mit Hausaufgaben war es das jetzt gewesen. Liam liebte Walker abgöttisch. Er sprang auf und winkte dem hochgewachsenen Mann zu, der zum Gruß die Hand hob und sein Pferd vor der Holzterrasse zügelte. Mit einer geschmeidigen Bewegung stieg er ab und band die Zügel an der Veranda fest, ehe er mit einem gekonnten Sprung über die Brüstung setzte, anstatt die Stufen auf der anderen Seite zu nehmen.

„Na Kumpel, wie geht's?", fragte er vergnügt und wuschelte Liam durch das braune Haar.

„Ich muss Hausaufgaben machen", seufzte der Junge.

Walker nickte ihr über Liams Kopf hinweg zu, ehe er sich neben dem Kind auf einem Stuhl niederließ.

„Ich war in Mathe schon immer schlecht", flüsterte Walker dem Jungen verschwörerisch zu.

Becky musste grinsen. Sie hatte keine Ahnung, ob das den Tatsachen entsprach, denn Walker Whitethrone stand inzwischen an der Spitze des Familienunternehmens, das Reitsportartikel aller Art herstellte und vertrieb. „Reitsportartikel Whitethrone" gehörte inzwischen zu den Marktführern hier in Quebec. Wenn einer mit Zahlen umgehen konnte, dann definitiv Walker.

„So schwer sind die Aufgaben doch nicht und wenn du fertig bist, darfst du sicher deinen Großvater besuchen und eine Runde auf Rosa drehen."

Becky hatte nichts dagegen, dass Liam auf die Whitethrone-Ranch ging und ihren Vater Jacob dort von der Arbeit abhielt. Liam liebte Pferde und es bereitete ihm große Freude, auf Rosa zu reiten, wenn sein Großvater ihn im Kreis führte.

„Das geht nicht", verkündete Liam frustriert. „Ich habe keine vernünftigen Turnschuhe. Sie sind kaputt und Mom kauft mir keine neuen."

„Hmm ..."

Wieder begegneten sich ihre Blicke über den Kopf des Jungen hinweg, und Becky sah ertappt fort. Sie hatte nicht gewollt, dass Walker davon erfuhr. Sie kamen zurecht – irgendwie.

„Lass uns mal sehen, wie schnell du mit diesen Aufgaben bist." Walker tippte mit dem Zeigefinger auf Liams Rechenheft und erhob sich dann, um zu Becky zu gehen.

Sie richtete sich auf und wappnete sich für das Gespräch, das unweigerlich folgen würde. Walker zog sich einen der Gartenstühle heran und setzte sich ihr gegenüber.

„Warum kommst du nicht zu mir?"

Becky wich seinem forschenden Blick aus. Wie immer, wenn er dieses Thema ansprach, schnürte es ihr die Kehle zu.

Bewusst ließ sie seine Frage unbeantwortet und beschloss, in die Offensive zu gehen. „Du solltest nicht so oft herkommen."

„Das ist meine Entscheidung. Ich mag Liam."

Becky schluckte aufgebracht. Liam mochte Walker und sie mochte ihn auch. Für sie war er so etwas wie ein Freund geworden. Dennoch war es nicht richtig, ihn auf diese Art und Weise auszunutzen.

„In Saint-Marianne wird geredet", sprach sie das aus, was sie schon länger beschäftigte. Wie ein Lauffeuer hatte sich damals die Nachricht verbreitet, dass Becky Carrick ein Kind bekommen würde. Und danach blieb sie nicht nur unverheiratet, sondern schwieg sich auch noch über den Vater aus. Als dann ausgerechnet Walker – ein Whitethrone und ein verheirateter Mann – begann, Becky zu unterstützen, brodelte die Gerüchteküche über. Konnte man daher jemandem verübeln, dass bis heute alle annahmen, Walker wäre Liams Vater?

„Das ist mir egal", entgegnete Walker aufgebracht.

Becky blickte auf und konnte in den blauen Augen von Walker lesen, dass er die Wahrheit sprach. Whitethrone-Augen, ging es ihr durch den Kopf. Wie die Brüder Walker, Cole und Jeffery sie besaßen – und wie Liam.

„Das weiß ich", flüsterte sie und blickte hilflos auf ihre Hände.

„Hör endlich auf, dir so viele Gedanken zu machen, und lass dir helfen." Er drückte ihr einen gelblichen Schein in die Hand. Becky musste nicht hinsehen, um zu wissen, dass es sich um hundert Dollar handelte. Wie immer zu viel Geld.

Bevor sie es ihm zurückgeben konnte, erhob Walker sich und schlenderte, als ob nichts passiert wäre, zu Liam.

„Ich fürchte, ich muss jetzt gehen, aber vielleicht sehen wir uns später auf der Ranch, wenn du und deine Mutter neue Turnschuhe für dich gekauft haben."

Liam hob den Kopf und warf Becky einen fragenden Blick zu.

Beckys Hand schloss sich fester um das Geld. Es war nicht richtig, es zu nehmen, dennoch würde sie es tun. Für Liam. Langsam nickte sie und ein strahlendes Lächeln breitete sich auf dem Gesicht des Jungen aus.

Walker verabschiedete sich, schwang sich auf sein Pferd und ritt davon.

A Touch of Royalty - Eine Nacht in deinen ArmenWo Geschichten leben. Entdecke jetzt