Kapitel 2.1 - Auf der Suche

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Als die Bahn endlich zum Stehen kam, konnte er zu seiner Überraschung wieder die Umrisse des Mannes sehen. Er stand am oberen Ende der Treppe, die zur Straße führten. Schnell drückte er sich aus der Bahn hinaus und lief wie im Slalom an den umherstehenden Menschen vorbei, die ihm alle argwöhnisch hinterherstarrten. Als er am Fuß der Treppe angekommen war, konnte er erkennen, dass Korner sich nun vorwärtsbewegte, immer weiter von ihm weg. Aurelius nahm bei jedem Schritt zwei Stufen, um ihn irgendwie noch erreichen zu können. Die letzten drei Stufen versuchte er in einem Satz zu überqueren, doch dabei geriet er ins Stolpern. Mit dem Knie landete er auf der oberen Kante der Treppenstufe. Er blickte sich um, doch weit und breit war niemand zu sehen, der auch nur im Entferntesten eine ähnliche Statur hatte wie Korner. Bloß eine Menge durchschnittlich gebauter Passanten war zu sehen. Der einzige, der ihm durch seine Statur auffiel, war ein kleiner Mann, der es durch seine äußerst geringe Größe gerade noch schaffte, über das Treppengeländer zu schauen.

Hatte er sich einfach getäuscht und es war gar nicht Korner, den er vermeintlich hier gesehen hatte? Die Hitze hatte schließlich schon vielen vor ihm auf den Kopf geschlagen.

Erst jetzt, als er sich wieder beruhigt hatte, merkte er den stechenden Schmerz in seinem Knie, welches er sich intuitiv festhielt. Er sah hinab und ihm wurde wieder schlagartig bewusst, weshalb er nie Arzt geworden war, so wie es seine Eltern immer für ihn wollten. Seine Hose war gerissen und darunter konnte er eine leicht blutende Schürfwunde erblicken. Blut war ihm immer schon suspekt gewesen, vor allem, wenn es sich dabei um sein eigenes handelte. Für den Rest des Heimweges versuchte er es zu vermeiden, auf die Wunde hinabzublicken und sich stattdessen von den Menschenmassen ablenken zu lassen. Nach drei Minuten Fußweg, bog er schweißgebadet in seine Straße ein, wo seine Nachbarin gerade die Mülltonne vorzog. Ihr Gesichtsausdruck war nur schwer zu deuten. Meist schaute sie mürrisch, auch wenn sie es gerade mal nicht war. Jetzt sah sie fast verbittert aus und als sie Aurelius erblickte, verfinsterte sich ihre Miene. Aurelius bemühte sich immer, sie bei möglichst guter Laune zu halten, was ihm nur leider ausgesprochen selten gelang. Künstlich lächelnd ging er auf sie zu, doch sie verzog keinen Gesichtsmuskel.

„Da war eben ein Mann. Ausgesprochen groß und unfreundlich, wenn mir das zu sagen erlaub ist. Behauptet er würde Sie kennen. Ist vor fünf Minuten dort hinten lang gegangen. Ich hab wohl nichts Besseres zu tun, als mich um Ihre Bekanntschaften zu kümmern. ", sagte sie in schnippischem Tonfall und zeigte mit dem Arm in die Richtung der Straße aufwärts. Aurelius war umgehend klar, um wen es sich handeln musste. Aber das war unmöglich. Er konnte es unmöglich in der Zeit geschafft haben, hierher zu kommen, wo Aurelius doch umgehend hierhergekommen war. Korner musste förmlich geflogen sein, um mit solchem Abstand vor ihm anzukommen, denn der Weg von der Bahn bis in diese Straße waren nur fünf Minuten.

Er spielte mit dem Gedanken einfach wieder nach Hause zu gehen, doch es juckte ihn zu sehr in den Fingern herauszufinden, was es mit diesem mysteriösen Mann auf sich hatte. Aber die quälende Hitze auf der Straße hielt ihn davon ab, den Mann weiter zu verfolgen. Was würde er auch machen können, wenn er dem alten Mann tatsächlich begegnen würde. Also wand er sich von seiner Nachbarin ab und öffnete die Tür zum Treppenhaus, wo er die schmalen Stufen hinaufstieg. Doch kaum war er oben angekommen und hatte seine Wohnungstür aufgeschlossen, da stieß ihm eine Hitzewand entgegen, die ihn schlagartig einen Schritt zurückstieß. Er dachte einen Moment lang nach, sah hinüber zu dem fest verschlossenen Fenster und hatte den Entschluss gefasst, dem Mann doch noch durch die Stadt zu folgen, auch wenn es den ganzen Tag dauern sollte. Lieber draußen an der heißen Luft, als hier oben in den stickigen vier Wänden, wo die Hitze keine Chance hatte, zu entrinnen. Noch bevor seine Katzen durch die Tür flüchten konnten, um ihn zu begrüßen, stieß er sie wieder zu, ging die Treppe hinab und verließ das Haus.

Seine Nachbarin war zu seiner Freude anscheinend wieder im Haus verschwunden, denn ihm wurden keine Unfreundlichkeiten entgegengeworfen und sie war auch nirgendwo mehr zu sehen.

Aurelius sah nach rechts die Straße entlang und schaute dann nach links. Einen kurzen Moment überlegte er, welche Richtung er zuerst einschlagen sollte. Links war der Weg zur Straßenbahn, aus der er gekommen war; rechts ging es zum Park, zum Supermarkt und etwas weiter zum Theater. Er entschied sich für den rechten Weg, den in dessen Richtung die immerzu liebenswerte Frau Nachbarin gedeutet hatte.

Von weitem konnte man die hohe Parkuhr erblicken, die durch die Baumkronen hindurchschien. Oft saß er stundenlang auf einer von den bunten Parkbänken und genoss die Ruhe, die ihm dort begegnete. Es war nur ein kleiner Park, der kaum Beachtung fand. Ab und an kamen Touristen vorbei und standen mit ihrem Handys vor der Parkuhr und schossen eifrig Fotos, als hätten sie nie zuvor eine Uhr gesehen, wobei es schon stimmte, es war eine außergewöhnlich hohe, wenn auch nicht allzu schöne Parkuhr. Es gab Legenden über diese Uhr, Geschichten aus längst vergangenen Tagen. Angeblich soll sie bereits dort gestanden haben, bevor jemand das erste Haus in der Stadt gebaut hatte. Keiner wusste, wer sie gebaut hatte, wann sie gebaut wurde, nur ihre Existenz war unzweifelhaft. Und dass war nicht die einzige zweifelhafte Geschichte, die die Uhr umgab. Doch kaum jemand kannte die Geschichten, nur belesene Historiker und Geschichtsbegeisterte fanden ihren Weg in den Park, um die Uhr zu bewundern. Ein wirklicher Touristenmagnet war sie also bei weitem nicht, dachte sich Aurelius und ging daran vorbei.

Immer wieder blickte er sich um, um Korner zu erblicken, doch es schien aussichtslos. Nirgends war er zu sehen, wobei er bei seiner enormen Körpergröße doch aufgefallen wäre.

Er suchte den Park ab, ging zweimal um das Theater herum, sah wieder im Park nach und setzte seine Suche am Bahnhof fort. Nach und nach wurde es dämmrig. Dabei war es gerade mal siebzehn Uhr. Er blickte hinauf zum Himmel und erkannte, dass es nicht dämmrig wurde, sondern sich dicke Gewitterwolken zusammenschoben und jeden Moment damit drohten, ihre geballte Last in Donner und Wasser-Strömen niederschmettern zu lassen. Hatte er nicht am Morgen im Radio gehört, dass sich gegen Abend ein Gewitter auftuen sollte? Jetzt stand er mit einem kurzen, weißen, sowieso schon vom Schweiß durchnässten Hemd in einem der unzähligen überfüllten Parks, nahe des Stadtrandes und spürte bereits den ersten Regentropfen in seinen Nacken klatschen. Reflexartig zog er seine Schultern zusammen und warf den Kopf zurück.

Rings um ihn standen die Menschen panisch von den Parkbänken und ihren Decken auf, packten hektisch ihren Kram in die Taschen und verließen den Park, als würde der Regen ihnen den letzten Atemzug nehmen. Nur wenige ließen sich von dem Regen nicht die Zeit rauben und machten sich in aller Ruhe auf den Heimweg. Einzelne Parkbesucher, empfingen den Regen als willkommene Abkühlung und legten ihren Kopf in den Nacken, um möglichst viele Regentropfen ins Gesicht zu bekommen.

Auch Aurelius schien das kühle Nass als angenehm zu empfinden, doch auch sah er ihn als Zeichen, seine Suche nach dem mysteriösen Mann zu beenden und sich auf den Weg nach Hause zu begeben. Die nächste U-Bahnstation war nur wenige Fußminuten entfernt, doch er wusste, dass er jetzt keine Chance hatte, einen Platz in einem der Wagons zu finden. Jeder, der sich jetzt noch auf der Straße befand, war nun fast Panisch auf dem Weg in die U-Bahnstation, um den Regen zu entkommen. Der wohl sonst jeden einzelnen in den Tod gerissen hätte, wenn man den platschenden Tropfen nicht in den nächsten Sekunden entkommen würde.

Also beschloss er, seinen Heimweg zu Fuß anzutreten, um den Menschenmassen zu entgehen.

Die Flucht der Drachen - Aufbruch aus TarakonaWo Geschichten leben. Entdecke jetzt