K A P I T E L 1

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Emilia

Mein Herz hämmerte wild gegen meine Brust. Mein Puls raste. Ich drehte mich so unauffällig wie möglich um und durchkämmte den Wagon des Nachtzugs. Er war nicht hier.
Ich wiederholte die Worte immer wieder und versuchte mich zu beruhigen. Es gelang mir jedoch nicht, zu groß war die Angst. Völlig übermüdet lehnte ich mich an das kalte Fenster und blickte hinaus. Alles was ich erkennen konnte, war die Dunkelheit und verschwommene Züge meines Gesichts, die sich im Glas wiederspiegelten. Müde Augen umrandet von tiefen Augenringen betrachteten mich. Mein blondes Haar war von der Wollmütze wild zerzaust. Ich fühlte mich wie überfahren, jedes Körperteil schmerzte. Doch das alles war nicht von Bedeutung. Wir hatten es in den Zug zum Flughafen geschafft. Die erste Etappe unserer Reise. Mein Blick wanderte zu meinem kleinen Mädchen, das neben mir in meinen Arm gekuschelt tief und fest schlummerte. Ihre Gesichtszüge waren ganz weich, ihr Atem ging regelmäßig. Sanft streichelte ich über die kleine Hand meiner wundervollen Tochter. Ihr Anblick ließ mich ruhiger werden und verbreitete eine wohltuende Wärme in meinem Bauch. Sie war schon immer mein Anker gewesen und nun würde alles besser werden, redete ich mir zumindest ein. Ich hoffte es, denn die Reise war ein Weg ins Ungewisse. Mein einziger Anhaltspunkt war ein verknüllter Brief mit einem Schlüssel. Es klang nahezu lächerlich und vielleicht mochte es für den ein oder anderen naiv sein, dem Brief so viel Glauben zu schenken. Für uns aber war er die einzige Hoffnung. Ich zog mit der rechten Hand das Papier aus meiner Manteltasche hervor und las die mittlerweile vergilbten Zeilen zum wahrscheinlich hundertsten Mal.
In der linken Hand hielt ich den Schlüssel, der mit barocken Applikationen versehen war.
Deine Schwester wartet unter den Polarlichtern auf dich und dieser Schlüssel ist der Eintritt zu deinem Glück.

Ella Edmonton
355 Snefellsness 23.
Island
Deine Mom

Wie sehr hatte ich mir das gewünscht? Eine Schwester, einen Familienteil. Es klang nahezu zu schön, um wahr zu sein und ehrlich gesagt hatte ich ein mulmiges Gefühl. Immerhin wussten wir nicht, ob meine Schwester wirklich existierte. Im Internet hatte ich keinen einzigen Eintrag zu dem Namen Ella Edmanton finden können. Es war merkwürdig, doch was blieb mir großartig übrig? Wir konnten keine Sekunde länger bei ihm bleiben. Dieser Brief war wie ein Zeichen, auf das ich sehnsüchtig gewartet hatte.
Eine laute Stimme ertönte plötzlich und ließ mich so zusammenfahren, dass sich meine Tochter ebenfalls regte. „Nächster Halt Flughafen", sagte jemand monoton durch die Lautsprecher.
Ich blickte wieder nach draußen und konnte bereits kleine Lichter von verschiedenen Gebäuden erkennen. Wir waren da.
Wie von selbst beschleunigte sich mein Puls wieder. Ich steckte den Brief in meinen Mantel zurück und zog den Reißverschluss nach oben.
Bevor wir aufstanden, vergewisserte ich mich noch einmal, dass er sich wirklich nirgendwo versteckt hatte. Die Luft war rein, doch für wie lange noch?
Ich nahm meine Tochter, die zum Glück von der Durchsage nicht wach geworden war, langsam über die Schulter. Ihr blonder Lockenkopf bedeckt von einer dicken Strickmütze, schmiegte sich an meinen Hals. Auf die andere Schulter wälzte ich meinen großen Rucksack mit unseren wichtigsten Sachen und zog daraufhin unseren Koffer aus einer Ablage hervor. Ich nahm noch einmal all meine letzte Kraft zusammen, um die nächste und wichtigste Etappe zu meistern.
Eine riesige Last lag auf meinen Schultern, doch das war im Vergleich zu unserem alten Leben überhaupt nichts. Diesen Schritt würde ich auch noch schaffen. Ich durfte nur nicht aufgeben.
Der Zug wurde nun immer langsamer und rollte in den Bahnhof des Flughafens ein. Lichter der pompösen Flughafenhalle durchbrachen die Dunkelheit. Meine Augen durchforsteten automatisch das gesamte Gleis. Niemand außer ein paar unbekannte Gesichter waren zu sehen. Ich versuchte mich zu beruhigen und bewegte mich langsam auf den Ausgang des Wagons zu. Ich wollte so wenig wie möglich auffallen, bloß keine Aufmerksamkeit auf mich ziehen.
Der Zug kam nun langsam zum Stehen und ich ging mit meiner Tochter auf dem Arm und dem gesamten Gepäck die wenigen Treppen des Zugabteils hinunter.
Ein kalter Luftzug ließ mich kurz zusammenzucken. Es war bereits Ende November und die Temperaturen lagen unter Null Grad, weshalb ich meine Tochter noch fester hielt. Sie sollte nicht frieren.
Mit letzter Kraft schleppte ich meinen Koffer hinter mir her und eilte so schnell wie möglich in die Richtung unseres Gates. Der Flughafen in Quebec war glücklicherweise übersichtlich und ich kannte ihn noch von früher, weshalb ich wusste, wohin ich musste. Jedoch änderte das nichts an der Tatsache, dass mir mein Herz bis zum Halse schlug. Ich hatte mir nicht überlegt, was ich tun würde, sollte er auftauchen. Das durfte einfach nicht passieren.
Während wir mit den Rolltreppen zu den verschiedenen Gates hinauffuhren, vibrierte mein Handy in der Gesäßtasche. Mein Puls beschleunigte sich wie von selbst, genauso wie mein Tempo. Ich verließ die Treppen und eilte zu Gate sieben, das ungefähr acht Minuten Laufzeit entfernt lag.
Geistesabwesend zog ich mein Handy aus der Tasche, um nach der Uhr zu sehen. Abrupt hielt ich inne, so dass die Person hinter mir gegen mich und Hope stieß.
„Verdammt", fluchte die Person laut und lief kopfschüttelnd an mir vorbei. Anstatt mich aber zu entschuldigen, blieb mein Blick am Handy hängen. Zehn verpasste Anrufe in den letzten fünfundvierzig Minuten. Mehrere Nachrichten. Von ihm, von meinem Ehemann Dave. Mit zittrigen Händen öffnete ich die letzte Nachricht.

Keiner will dich, du hast nur mich. Komm sofort zurück!!! Ihr könnt nicht ohne mich leben. Du nutzloses Gör.

Eiskalter Schweiß lief entlang meiner Stirn und ich spürte wie jegliches Leben aus meinem Körper wich. Vor Angst. Dabei bemerkte ich nicht, dass Hope aufgewacht war. Ihre blauen Augen betrachteten erst mich, wanderten daraufhin zu der riesigen Anzeige über uns.
„Mami, wo sind wir?", fragte sie leise. Mit zittrigen Händen steckte ich das Handy zurück und versuchte mir ein Lächeln aufzudrängen, so wie ich es immer tat. Sie sollte von meinen Ängsten nichts mitbekommen, immerhin war sie gerade einmal drei Jahre alt. Ich schluckte also den großen Kloß in meinem Hals herunter und ließ sie auf den Boden gleiten.
„Wir fliegen zu einer Tante nach Island. Dort gibt es ganz viele Berge und Seen", versuchte ich sie zu überzeugen, was nicht nötig war, da ich wusste, dass meine Tochter überall hinging, solange sie bei mir war. Wir waren schon immer ein Herz und eine Seele gewesen.
Wie zu erwarten, klatschte sie wild in die Hände und nahm daraufhin meine Hand. Keine Frage nach ihrem Dad. Was keine Überraschung war, da er sich in der Vergangenheit nur wenig um Hope gekümmert hatte. Für ihn war schon immer seine Firma das Wichtigste in seinem Leben gewesen.
„Dann los." Ein Blick auf die Flughafenuhr verriet mir, dass wir bereits 4:38 Uhr und somit nur noch zweiundzwanzig Minuten bis zum Abflug hatten. Mit Sicherheitscheck würde das knapp werden.
In zügigen Schritten und Hand in Hand eilten wir durch die schier endlos lange Halle. Mein Handy vibrierte wieder und immer wieder. Er konnte unmöglich hier sein. Immerhin waren wir ihm mindestens eine Stunde voraus. Ich hatte extra seine Haus- und Autoschlüssel versteckt, damit er uns nicht direkt verfolgen konnte. Ich musste auf Nummer sichergehen.
Kurze Zeit später erreichten wir die Sicherheitskontrolle, die um diese Zeit zum Glück leer war, sodass wir bereits nach fünf Minuten das Gate betreten konnten.
Erleichtert atmete ich aus. In diesem Bereich konnte man nur noch mit einem Flugticket gelangen, was mir etwas Sicherheit verschaffte.
Das Boarding war bereits voll im Gange, weshalb wir uns auch in die Reihe der wenigen Menschen stellten. Oben in der Anzeige prangte groß Island. Wir waren noch nie außerhalb von Kanada gewesen, was mich noch nervöser machte. Ich wusste nicht, was auf uns zukam, gleichzeitig hatte ich mir diesen Moment so sehr herbeigewünscht. Vor uns lagen nur noch wenige Schritte in Richtung Freiheit. Vier Jahre voller Angst hatten nun ein Ende. Ich spürte bereits jetzt wie jedes Leben in mir zurückkehrte und drückte ganz fest die kleine Hand meiner Hope, die mit großen Augen die Flugzeuge bestaunte. Immerhin war es ihr erstes Mal, dass sie in eine so große Maschine stieg.
„Ihre Tickets bitte Miss", sagte die freundliche Flugbegleiterin am Schalter und beäugte mich dabei ganz genau. Ihr Blick wanderte zu Hope.
Ich holte unsere Flugtickets und Pässe hervor und lächelte freundlich. Dieses Mal war mein Lächeln echt.
„Haben sie die Einverständniserklärung des Vaters dabei, dass sie das Land mit ihrer Tochter gemeinsam verlassen dürfen?", fragte sie plötzlich. Hitze breitete sich in mir aus. Ich hatte gehofft, dass es dazu nicht kommen würde. So unauffällig wie möglich ließ ich meinen Rucksack von der Schulter gleiten und kramte Hopes Geburtsurkunde hervor, sowie eine Einverständniserklärung, die mein Ehemann unterschrieben hatte. Zwar nicht im nüchternen Zustand, doch es war seine Unterschrift, die er selbst gesetzt hatte. Im Grunde genommen also alles legal. Zumindest für mich.
Mit Herzklopfen reichte ich die Dokumente der braunhaarigen Flugbegleiterin. Während sie die Papiere genau prüfte, deutete ich zu dem Flieger, den man durch das große Fenster vor uns erkennen konnte und versuchte so abzulenken.
„Dort werden wir gleich einsteigen, Schatz."
Die Frau räusperte sich erneut.
„Also gut, dann eine gute Reise." Ich bekam die Unterlagen zurück und ein riesiger Stein fiel mir vom Herzen. Erleichtert atmete ich aus. Ich hatte überhaupt nicht bemerkt, dass ich die Luft angehalten hatte. Schnell nahm ich die Unterlagen entgegen und ging mit Hope in Richtung des Ausgangs.
„Halt stop", rief auf einmal eine Männerstimme hinter mir. Vor Schreck blieb ich wie angewurzelt stehen. Sie hatten es herausgefunden. Panik breitete sich wieder in mir aus. In Zeitlupe drehte ich mich um.
„Sie haben ihren Rucksack vergessen."
Ein Passagier eilte zu uns und reichte mir meine alte graue Tasche. Völlig fertig nahm ich sie entgegen.
„Lass uns gehen Hope." Wir mussten hier so schnell wie möglich weg, fügte ich im Stillen hinzu.

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Töchter des PolarlichtsWo Geschichten leben. Entdecke jetzt