„Wir sind da Hope", murmelte ich müde aber glücklich vor mich hin, während ich im Schritttempo die kleine mit Schnee bedeckte Ortschaft Snefellsness passierte und ein alter Mann mich genau begutachtete. Gut, ich musste zugeben, dass wir mit diesem riesigen Pick-up auffielen und mich das ärgerte. Ich hatte beim Mietwagenverleih extra um einen kleinen Wagen gebeten, aber der Herr am Empfang in Reykjavík hatte gelacht, als ich ihm erzählt hatte, in welche Region wir wollten und welchen Wagen wir ursprünglich dafür gemietet hatten. Er meinte, ohne Schneeketten und richtigen Allradantrieb könne ich die Strecke vergessen. Als unerfahrene Fahrerin erst recht.
Was dachte sich der Mann? Bei uns in Kanada gab es immerhin auch Unmengen an Schnee. Es hatte schon seinen Grund, wieso wir einen kleinen Wagen mieten wollten. Immerhin sprengte die Kaution des Pick-Ups bereits jetzt mein Budget. Doch mir blieb nichts anderes übrig. Wir brauchten den Wagen. Nun hatten wir kaum mehr Geld und ich wusste nicht, wo wir die Nacht verbringen würden. Ich fühlte mich miserabel und blickte zu meiner Tochter, die mit riesigen Augen aus dem Fenster sah und den Schnee betrachtete. Ich nahm ihre Hand und drückte sie liebevoll. Wir waren hier, weit weg von Dave, uns konnte nichts mehr passieren und das war das Einzige, was zählte. Wir hatten es tatsächlich geschafft. Das wurde mir in dem Moment klar, als der Flieger in Kanada abgelegt hatte.
„Schau mal, Mami." Hope deutete auf die unzähligen Schneeflocken, die gegen unsere Windschutzscheibe flogen, so dass man kaum etwas erkennen konnte.
Wir durchquerten den kleinen, nahezu verlassenen Ort und ich musste mir eingestehen, dass der Empfangsmitarbeiter recht behalten hatte. Denn umso weiter wir unserem Ziel gekommen waren, desto höher war der Schnee geworden und desto mehr Wind wehte. Wir hatten sogar während der Fahrt anhalten müssen, da uns die starken Böen und die eingeschränkte Sicht aus der Spur gebracht hatten.
„Mama ich habe Hunger", jammerte meine Mädchen und rieb sich müde die Augen. Mein schlechtes Gewissen wurde immer größer. Ich hielt Ausschau nach Ellas Adresse oder einem Supermarkt. Wie es jedoch schien, besaß dieser Ort weder Straßennamen noch irgendwelche Läden. Selbst mein Navi hatte aufgegeben, weshalb ich nun auf mich allein gestellt war. Ich lenkte den Wagen nach meinen Bauchgefühl durch den bescheidenen Ort und hielt nach Ellas Hausnummer vergebens Ausschau. Die mit Schnee bedeckten Häuser verdeckten die Sicht, weshalb ich kurzerhand an einem kleinen Parkplatz vor einem Haus anhielt, das von außen beleuchtet war. Ich konnte nicht erkennen, um was es sich bei dem Haus handelte.
„Zieh deine Jacke und Mütze an, wir schauen mal, ob es hier etwas zu Essen gibt."
Ich stieg aus und ging um den Pick-Up herum, um mein Mädchen aus dem Autositz zu heben. Dieses Gefährt war viel zu hoch, um dort allein herauszukommen.
Eiskalte Schneeböen wehten um unsere Ohren, so dass ich meine Arme vor meinem Mantel verschränkte, der viel zu dünn für diese Region war. Sollten wir hier bleiben, brauchte Hope auf jeden Fall noch dickere Winterkleidung. Die Liste der Dinge wurde immer länger. Doch der Blick vor mir entschädigte einiges. In Snefellsness war es nicht nur bitterkalt, sondern auch unglaublich schön. Staunend sah ich mich zum ersten Mal bewusst um und betrachtete die winterliche Umgebung, soweit
es die Schneeflocken zu ließen. Die Häuser waren von riesigen Bergen, nahezu endloser Weite und imposanten Klippen umgeben. Die Landschaft war noch viel schöner als ich es mir vorgestellt hatte. Alles strahlte förmlich Ruhe und Frieden aus. Genau das, was Hope und ich nun brauchten. Dennoch fragte ich mich, wie man sich hier als Tourist zurechtfinden sollte, da die wenigen Holzhäuser kilometerweit voneinander entfernt waren und es keine Straßennamen gab.
„Mama, mir ist kalt." Hope zog an meinen Mantel und zitterte vor Kälte.
„Komm her mein Schatz." Schnell nahm ich sie hoch und machte mich mit ihr auf den Weg zu dem Haus, das auf einem kleinen Hügel lag. Es war ein in die Jahre gekommenes, grünes Holzhaus mit roten Fenstern. Ich tippte auf einen Kiosk, da ich am Haus das rote isländische Postzeichen erkennen konnte. Schnell gingen wir die Treppe zu dem Haus hinauf und ich konnte meine Vermutung nach wenigen Metern bestätigen. Durch die kleinen beschlagenen Fenster entdeckte ich eine blonde Frau, die gerade etwas in eine Kasse eingab. Gott sei Dank. Erleichtert trat ich zur Tür und legte meine Hand auf die Klinke, um sie herunterzudrücken. Entgegen meiner Erwartung tat sich nichts. War der Kiosk geschlossen? Wie von selbst holte ich mein Handy aus der Jackentasche, das zur Sicherheit auf Flugmodus geschalten war, und versicherte mich mit einem Blick aufs Display, dass ich nicht verrückt wurde. Laut der Anzeige war es 13:45 Uhr und mittwochs. Der Laden musste ganz eindeutig geöffnet haben. Ich sah mich um und hielt nach Menschen Ausschau, stattdessen blickte ich nur auf große, schneebedeckte Tannen, die in den Himmel ragten, und einen klaren, eisblauen See, der sich hinter ihnen versteckte.
Zu meinem Glück öffnete wenige Sekunden später jemand von innen die Tür des Kiosks. Ich drehte mich um und musterte eine große Frau mittleren Alters mit hellgrünen Augen und lockigen Haaren. Sie schenkte uns ein warmes Lächeln. Es war die Frau, die ich eben an der Kasse gesehen hatte.
„Brauchen Sie etwas?", fragte sie höflich in meiner Sprache. Wahrscheinlich hatte mein suchender Blick sofort verraten, dass ich nicht von hier war. Warme Luft und ein Geruch von Zimt und Gebäck kamen uns entgegen.
„Das kann man wohl so sagen. Wir sind auf der Suche nach dem Haus Edmonton. Ich habe die Adresse im Auto, aber ich kann keine Straßenschilder und Hausnummern entdecken. Vielleicht können Sie mir weiterhelfen?", erkundigte ich mich und linste neugierig in den kleinen Laden. „Kommen Sie doch erst einmal rein. Hier draußen erfrieren Sie sonst mit ihrer Kleinen. Wie wäre es mit einem heißen Kakao?" Die Dame wandte sich mit dieser Frage an Hope und trat beiseite, woraufhin ich ihrer Einladung folgte. Wir gingen an ihr vorbei und ich entdeckte zahlreiche Regale mit unterschiedlichsten Lebensmitteln. Von Brot über Mehl und Käse konnte man hier die nötigsten Dinge vorfinden.
„Ich bin übrigens Freia. Wie heißt du denn?" Die Frau ging in die Hocke, um mit Hope auf Augenhöhe zu sprechen. In meinem Bauch breitete sich ein warmes Gefühl aus.
„Hope", antwortete mein Mädchen und streckte ihre Hand entgegen, so wie ich es ihr beigebracht hatte.
Mit einem großen Lächeln erwiderte Freia die Begrüßung und ging daraufhin zu der Theke.
„Na dann machen wir doch gleich mal ein heißes Getränk. Für Sie auch?" Freia nickte in meine Richtung, während Hope ihr aufmerksam zusah.
„Sie können mich Emi nennen. Und ja gerne", antwortete ich freundlich und freute mich innerlich wie ein kleines Kind. Freia hielt für einen kurzen Moment inne, bevor sie eine Tasse aus dem Schrank holte.
„Woher kommen Sie denn, Emi?", fragte sie zögerlich, während sie alles zubereitete.
„Kanada." Mehr sollte hier niemand erfahren. Ich musste und wollte vorsichtig sein, immerhin kannte ich hier niemanden. Freia reichte erst Hope, dann mir eine dampfende Tasse, von der ich sofort nippte. Es fühlte sich wie Balsam für die Seele an. Nach dieser Flucht und langen Anreise fiel mir das erste Mal etwas Last von den Schultern. Nun musste ich nur noch meine Schwester finden und eine Bleibe.
„Also ihr zwei ich muss euch etwas erklären. Hier ticken die Uhren etwas anders. Die vier Läden, die es hier gibt, machen zwei Stunden Mittagspause und Schilder gibt es nicht. Das haben Sie ganz richtig erkannt. Ganz selten verirrt sich leider jemand in unseren schönen Ort", klärte Freia mich auf und schenkte sich nun selbst einen Tee ein.
„Wir sind eine ruhige Gemeinde. Die Einwohner kennen sich hier aus, weshalb Schilder für uns überflüssig sind." Das erklärte natürlich einiges.
„Und wie finde ich nun das Haus der Edmontons?", fragte ich besorgt nach und hoffte auf eine Antwort. Was wenn es die Familie überhaupt nicht gab. Nervös tappte ich auf der Stelle.
„Am besten, Sie fahren Toni hinterher. Er wohnt direkt nebenan." Mit einem Nicken deutete sie nach draußen, in die Richtung meines Trucks. Erleichtert atmete ich aus und folgte ihrem Blick, doch anstelle eines weiteren Autos stand dort ein braunes Islandpferd und ein Mann, der um einiges größer als das Tier war.
„Wer reitet denn bei so einer Kälte?", erkundigte ich mich und nahm einen Schluck, während ich die hoch gewachsene Gestalt beobachtete. Gleichzeitig schüttelte es mich innerlich vor Kälte, wenn ich mir vorstellte, bei dem eisigen Wind auf dem Rücken eines Pferdes sitzen zu müssen. Ich hatte mit diesen wundervollen Geschöpfen so viel am Hut wie mit diesem Ort: rein gar nichts. Sie jagten mir auch um ehrlich zu sein, etwas Angst ein. Deswegen verstand ich es umso weniger, die Vorteile eines warmen SUVs nicht zu nutzen.
„Eigentlich jeder, der ein Pferd hat. Wobei es jetzt im Winter tatsächlich weniger Reitende gibt. Im Sommer aber ist jeder mit dem Pferd unterwegs." Mit großen Augen starrte ich Freia an und konnte kaum glauben, was sie gerade gesagt hatte. Dieser Ort tickte wirklich anders. Ich drehte mich wieder in die Richtung des Unbekannten namens Toni, der gerade durch die Tür kam. Ein kalter Luftzug wehte durch den kleinen Raum.
„Hi, Freia, wurde mein Milchersatz geliefert?" Toni blieb abrupt vor mir stehen, als er mich entdeckte. Er trug einen dicken gemusterten Pullover, einen langen Ledermantel und eine Mütze, die seinem Gesicht schmeichelte. Sein Haar konnte ich unter der Wollmütze nicht erkennen, sein Gesicht dafür ganz genau. Er hatte mindestens einen Siebentagebart und strahlend helle Augen, die so blau waren wie der See hinter den Tannen.
„Deine Lieferung kam vorhin zum Glück an. Nimmt das Mutterschaf das Lämmchen immer noch nicht an?", erkundigte sich Freia besorgt und machte sich auf den Weg zur Kasse, um dort die Bestellung unter dem Tresen hervorzuholen.
„Leider nicht, es wird allerhöchste Zeit, dass es etwas zu sich nimmt," sagte er mit einer tiefen Stimme.
Toni ging an mir vorbei und begrüßte mich dabei mit einem verhaltenen, aber höfflichen Nicken. Hope schenkte er ein kleines Lächeln, die noch immer genüsslich ihren Kakao trank. Ihre Lippen waren mittlerweile ganz braun von der Schokolade. Sie grinste nun ebenfalls und stellte sich wie bei Freia vor, obwohl ich ihr strengstens verboten hatte, mit fremden Männern zu sprechen.
„Hallo ich bin Hope. Wo hast du ein Lamm?", fragte sie unaufhaltsam. Schnell trat ich neben sie, bevor sie weiterreden konnte.
Perplex starrte Toni erst Hope, dann mich mit seinen eisblauen Augen an, die mich nervös machten.
„Entschuldigen Sie, wir wollten nicht aufdringlich sein. Wir sollten uns nun auf den Weg machen", sagte ich und wandte schnell meinen Blick ab. Der Riese vor mir antwortete zunächst nicht, sondern machte einen Schritt auf Hope zu, was mich instinktiv ihre Hand halten ließ. Toni stand nun direkt vor uns. Erst jetzt erkannte ich seine langen Wimpern und einen kleinen Fleck an seinem Augapfel. Er ging vor uns in die Hocke.
„Ich habe mehrere Lämmer auf meiner Farm. Vielleicht kommst du mal mit deiner Mum vorbei, dann zeige ich sie euch."
Ein breites Lächeln breitete sich direkt bei Hope aus.
Bevor sie antworten konnte, kam ich ihr zuvor.
„Das ist sehr nett, aber wir haben bereits andere Pläne. Wir müssen jetzt wirklich los. Schatz trink doch bitte deinen Becher leer."
Toni stand noch während ich die Worte aussprach auf. Ich fühlte mich schlecht, da dieser Mann nett zu sein schien, doch es ging nicht anders.
„Schreib es auf meine Rechnung, Freia, bitte."
„Toni, nächste Woche muss alles beglichen werden. Ich kenne ja deine Situation, aber ich muss leider auch meine Rechnungen bezahlen."
„Nächste Woche, versprochen", flüsterte nun Toni. Ihm war die Situation mehr als unangenehm, obwohl ich seine Lage verstand. Ich kannte ihn zwar nicht, aber ich wusste, dass man manchmal unverschuldet in eine Schieflage geraten konnte.
„Vielleicht kannst du Emilia helfen, sie sucht jemanden", sagte Freia plötzlich zu meiner Überraschung, was mich so schnell herumwirbeln ließ, dass mein restlicher Kakao überschwappte. Ich wollte seine Hilfe nicht.
Toni klemmte sich die Bestellung unter seinem Arm, drehte sich zu mir und beäugte mich misstrauisch. Stillschweigend standen wir uns beide gegenüber.
„Wen suchen Sie?", fragte er dieses Mal ohne ein Lächeln. „Ella", presste ich hervor, da ich wusste, dass ich mich ohne Hilfe nicht zurechtfinden würde. Anstatt jedoch weiter auf meine Antwort einzugehen oder zumindest nachzuhaken, was ich von ihr wollte, nickte Toni ausschließlich und ging an mir vorbei.
„Folgen Sie mir. Bis die Tage, Freia."
„Wenn Sie etwas brauchen, dann kommen Sie einfach bei mir vorbei, Liebes. Sie wissen ja jetzt, wo sie mich finden. Der Kakao ist ein Willkommensgeschenk. Bis bald." Freia winkte Hope zum Abschied, die ihre Tasse auf den Tresen abstellte. „Danke Ihnen. Das ist sehr freundlich."
Schnell stellte ich die Tasse ebenfalls auf den Tresen und folgte mit Hope Toni, der geradezu aus dem Laden gestürmt war. Hatte ich ihn verärgert?
„Liz, noch eine Sache." Ich wandte mich Freia zu, bevor wir durch die Tür gingen.
„Lassen Sie sich nicht unterkriegen, wir Isländer sind netter, als sie denken." Was das zu bedeuten hatte, fragte ich lieber nicht nach und verließ mit Hope das Geschäft.
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Töchter des Polarlichts
RomanceDie Zwillingsschwestern Liz und Emi wissen nichts von der Existenz der anderen. Ihre Mutter konnte sich nicht um ihre Töchter kümmern und will dies nun wiedergutmachen, indem sie die Frauen auf geheime Weise zusammenführt. Emi erhält als Erste eine...