Ich lag im Bett und starrte die dunkle Zimmerdecke an. Alles in meinem Kopf drehte sich. Zu einem winzig kleinen Teil lag das wohl an dem intensiven einstündigen Dauerlauf, den ich vor dem Zubettgehen als Teil meiner Strafe auf unserem Laufband absolviert hatte, bis ich kaum noch Luft bekam. Zu einem weit größeren Teil war ich mit der Erkenntnis beschäftigt, dass der heutige Tag kein Traum gewesen war.
Meine Gedanken schrien um die Wette, stolperten übereinander und versanken immer weiter im Chaos. Wie konnte das sein? Warum war ich nicht aufgewacht? Wieso war ich noch am Leben? Wie um Himmels Willen hatte ich nur so dumm sein können? Und wem oder was war ich da auf der Lichtung begegnet?
Ich fand keine Antworten. Immer und immer wieder kreiste mein Gehirn über der Unmöglichkeit des Geschehenen, suchte eine logische Erklärung und fand keine. Das Bild in meiner Erinnerung wurde kein bisschen weniger unwirklich oder magisch, je öfter ich versuchte, es nüchtern zu betrachten.
Der riesige Wolf mit den redseligen braunen Augen, der nur wenige Meter von mir entfernt zwischen den Blumen lag und mir aufmerksam zuhörte, während ich ihm aus dem alten Buch meiner Mutter vorlas. Die untergehende Sonne hatte den Himmel erst Orange gefärbt und war dann ganz verschwunden, hatte Platz gemacht für ein kühles Dämmerlicht, das der Situation, wenn das überhaupt möglich war, eher noch mehr Mystik verliehen hatte. Während ich las, hatte ich gleichzeitig darauf gewartet, dass der Traum endete. Stattdessen wurde es langsam kälter und dunkler, bis das Sitzen auf dem Boden unangenehm und die Schrift nur noch schwer zu entziffern war. Als ich das endlich bemerkt hatte und zum ersten Mal zögerte und innehielt, hatte der Wolf, der mich bis dahin unverwandt angesehen hatte, sich geschüttelt, als sei er aus einer Art Trance erwacht. Er sah zum Himmel, sprang auf und verschwand mit ein paar flinken Sätzen im Wald. Einfach so.
Noch bevor ich es wirklich realisiert hatte, war er verschwunden und hatte alle Magie mit sich genommen, unerwartet und abrupt, so dass ich einen Moment brauchte um mir bewusst zu werden, dass das Ende meines „Traums" gerade stattgefunden hatte, ohne dass ich aufgewacht war. Genau an diesem Punkt war das Gedankenchaos über mich hereingebrochen, das mich seither nicht mehr losließ.
An den Heimweg erinnerte ich mich kaum. Im allerletzten Licht des Tages stolperte ich den Trampelpfad und die Wanderwege entlang zurück. Ich war selbst überrascht, dass ich mich nicht verirrt hatte, so wenig konzentrierte ich mich auf den Weg.
Als ich zuhause ankam, war es schon ganz und gar dunkel gewesen. Maria hatte getobt vor Wut und mich an den Haaren ins Haus gezogen, doch selbst das hatte ich nur mit halber Aufmerksamkeit registriert. Für Angst oder Reue war in meinem Kopf noch kein Platz, er war viel zu sehr beschäftigt mit Faszination und Verwirrung. Vor allem Verwirrung.
Das war in der Situation vielleicht gar nicht so schlecht gewesen, denn es half mir, Geschrei und Vorwürfe fast gleichmütig über mich ergehen zu lassen – selbst als mein Vater schließlich heimkam und alles noch einmal von vorne begann. Abendessen hatte ich natürlich nicht bekommen, was schon eher ein Problem gewesen war, denn ich hatte seit dem Frühstück nichts gegessen und die Stunde auf dem Laufband, bei der mein Vater mir meine letzten Reserven abverlangt hatte, hatte meinem Körper den Rest gegeben. Zum Glück bewahrte ich genau für solche Fälle eine kleine Box mit Müsliriegeln, etwas Trockenobst und ein paar Süßigkeiten in meinem Kleiderschrank auf, doch ein richtiges Abendessen konnte das nicht ersetzen.
Mein Körper fühlte sich an wie ein Stein, meine Beine schmerzten ein wenig und mein Magen knurrte. Und obwohl ich todmüde war, wollten meine Gedanken einfach nicht die Klappe halten. Ich wusste genau, dass ich mir eine Nacht ohne Schlaf in meiner jetzigen Verfassung eigentlich nicht leisten konnte, aber es half alles nichts.
Meine Gedanken wanderten zurück zu dem Wolf. Unter all meinen Fragen brannte mittlerweile ein völlig neues Gefühl – Neugier. Ich konnte mir keinen Reim darauf machen, was für eine Kreatur das gewesen war, aber wenn ich davon ausging, dass ich nicht auf einen Schlag verrückt geworden war oder an Wahnvorstellungen litt (was ich durchaus in Erwägung gezogen hatte), dann war sie intelligent, friedfertig und scheinbar ähnlich fasziniert von mir, wie ich von ihr.
Spielte es denn wirklich ein Rolle, was der Riesenwolf für ein Geschöpf war? Ob er ein Geist war, eine Ausgeburt meiner Fantasie, eine unentdeckte Tierart oder ein aus dem Labor eines verrückten Wissenschaftlers ausgebrochenes Experiment? Naja, dachte ich und biss mir im Dunkeln auf die Lippe. Wissen würde ich es schon gern, aber selbst wenn, was fange ich mit dem Wissen dann eigentlich an? Es jemandem zu sagen kam nicht in Frage. Ganz abgesehen davon, ob mir überhaupt jemand glauben würde, da konnte nichts Gutes bei herauskommen. Am Ende erschossen sie ihn noch oder steckten ihn in einen Zoo. Außerdem wollte ich es für mich behalten. Mein Geheimnis, meine magische Begegnung im Wald. Das ging niemanden etwas an.
Ich versuchte meine Gedanken auf die zwei Dinge zu fokussieren, über die ich mir ganz sicher war. Zum einen, dass es nicht wirklich wichtig war, was genau der Wolf war, denn ich würde es ohnehin niemandem sagen und ich war mir sicher, dass er nicht gefährlich war. Zum anderen, dass ich ihn noch einmal sehen wollte. Ich wollte, nein, ich musste noch einmal in den Wald – ich musste zurück zur Lichtung und den Wolf noch einmal sehen. Ihn einmal berühren, wenn ich konnte, und ganz sicher sein, dass ich ihn mir nicht eingebildet hatte.
Das würde nicht leicht. Ich hatte Hausarrest bekommen und auch wenn morgen Sonntag war, würde Maria mich mit Sicherheit nicht eine Sekunde lang aus den Augen lassen. Ganz abgesehen von dem Frühlingsfest, auf das ich meinen Vater morgen Nachmittag begleiten musste. Bei solchen Dingen spielte Hausarrest in dieser Familie keine Rolle. Nicht, wenn es um den perfekten öffentlichen Auftritt ging. Trotzdem, die nächste Woche würde kommen und dank der Schule war eine hundertprozentige Überwachung dann nicht mehr drin. Ich musste eine Möglichkeit finden. Ich würde eine finden.
Mit dieser Gewissheit ausgestattet kam ich nach und nach zur Ruhe und endlich, weit nach Mitternacht, gab mein Kopf schließlich nach und glitt in einen erschöpften Schlaf.
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Can you see my face
RomanceYvette ist perfekt. Das muss sie auch sein, denn für ihren Vater dient ihr Leben nur einem einzigen Zweck: seine politische Karriere zu fördern. Zuflucht von ihrem Leben als lächelnde Vorzeigetochter findet Yvette nur in ihren Büchern und im Wald h...