Nein, dachte ich, geht weg. Doch sie kamen näher. Ich spürte die Panik langsam in mir aufsteigen. Ich wollte weg laufen doch meine Beine hörten nicht auf mich. Ich blieb wie angewurzelt hinter der Mauer stehen und hörte ihre Schritte auf dem kalten Asphalt näher kommen. Ich wusste, dass sie kamen um mich zu holen. Ich dachte nach, was ich jetzt noch tun könnte um vor ihnen zu fliehen, doch es war zu spät. Ich sah wie sie um die Ecke bogen und ihre Hände nach mir ausstreckten.
Ich wachte hysterisch Atmend auf. Es dauerte einige Minuten bis ich realisierte, dass ich in meinem kleinen Zimmer war indem ich seit zwei Monaten hauste. Es sind jetzt zwei Monate ohne eine normale Familie, ohne mein schönes großes Zimmer. Zwei Monate war es her, dass ich eine Nacht durchgeschlafen habe. Als sich meine Augen an die Dunkelheit gewöhnt hatten, sah ich eine Bewegung hinter meinem Bett. Mir stockte der Atem, doch dann sprang mein Hund Kola auf mein Bett. Ich war erleichtert und froh ihn zu sehen, er war der Einzige der während der schlimmen zeit bei mir war und mich immer aufheitert. Ich habe ihn seit mittlerweile zwei Jahren aber nie war unsere Beziehung so stark wie in den letzten zwei Monaten. Vielleicht lag es daran, dass er merkte wie traurig ich über den Umzug, die Scheidung meiner Eltern und den Verlust meiner Freunde war. Die letzten Monate waren mit Abstand die schlimmsten meines Lebens, aber ich versuchte nicht darüber nachzudenken. Es reichte, dass mir diese Gedanken den Schlaf raubten. Ich spürte etwas feuchtes an meiner Hand, es war Kola, er spürte dass ich aufgewühlt war. Ich schielte zur Uhr, es ist 3:42, ich überlegte was ich tun könnte bis ich zur Schule musste. Ich entschied ein Buch zu lesen bis ich aufstehen musste. Ich lese gerne, es ist als würde die Zeit stehen bleiben und man kann in eine andere Welt abtauchen wenn man seine eigene nicht mehr erträgt. Das war es was mich erfüllte. Meine Mutter meint immer, ich lese zu viel und sollte lieber ausgehen aber das wollte ich nicht, ich war nicht gern unter Menschen seit es passiert ist.
Zwei Stunden später muss ich das Buch weglegen. Das war der schlimmsten Teil am lesen, aus dem wundervollen Fantasieleben zurück in sein eigenes trostloses Leben. Ich ging runter in die Küche und holte mir ein Glas Saft, ich erinnerte mich daran wie es früher war wenn ich in die Küche kam. Meine Mutter stand am Herd und lachte während sie Pfannkuchen als Frühstück zubereitete. Sie hat blonde, lockige Haare, die ich von ihr geerbt habe. Sie ist bildhübsch und wäre sie 20 cm größer, hätte sie als Model arbeiten können. Während meine Mutter da Essen zubereitete, saß mein Vater immer am Tisch, las seine Zeitung und freut sich auf die gemeinsame Zeit nach der Arbeit. Mein Vater war ein kräftiger Mann, mit kurzen dunkelblonden Haaren, meine Größe hab ich ihm zu verdanken. Sie schienen wie das perfekte Ehepaar auch noch nach all den Jahren. ich freute mich damals jeden Morgen auf das gemeinsame Frühstück und die witzigen Unterhaltungen. Ich hätte nicht gedachte, dass mir das mal so sehr fehlen würde.
Inzwischen hatte ich das Glas ausgetrunken und ging zurück in mein kleines Zimmer, mit der Zeit habe ich mich daran gewöhnt, dass mein Zimmer nur noch die Hälfte meines vorigen war. Wie jeden Morgen klopfte ich auf dem Weg nach draußen , um die Runde mit Kola zu drehen, an die Zimmertür meiner kleinen Schwester. Sie war das hübsche, kleine Ebenbild meiner Mutter. Es war ein schöner Morgen, ich liebte Aprilmorgende, die Sonne, der Tau, die Ruhe und das Vogelgezwitscher waren der beste Start in den Tag. Ich gehe nur einmal den Feldweg entlang. Kola lief freudig umher und blieb zwischendurch stehen um sicher zu gehen dass ich ihm noch folgte und ich in seiner Nähe war. Das war einer der wertvollen Momente in denen ich einfach nur glücklich war, wie schon lange nicht mehr. All meine schlechten Erlebnisse, Gedanken und Ängste rückten in den Hintergrund und schienen plötzlich nicht mehr so erschreckend groß. Als ich vor der Haustür stand, atmete ich einmal tief ein, so als ob ich alles Glück mit diesem Atemzug festhalten könnte. Jedesmal wenn ich vor unserem Haus stehe fiel mir auf wieviel kleiner es ist im Gegensatz zu unserem alten Haus, wir mussten es verkaufen. Als ich rein kam, sah ich meine kleine Schwester ganz allein in der Küche ihr Müsli essen. Sie tat mir so leid, sie ist gerade mal sechs Jahre alt und versteht nicht weshalb sich in unserem Leben auf einmal so viel veränderte. Ich setzte mich mit einer Schüssel Müsli zu ihr, nicht weil ich hungrig war, Hunger hatte ich schon lange nicht mehr, sondern weil es mir leid tat wenn sie so einsam war. Sie freute sich immer und erzählt mir etwas aus der Schule oder von ihren Freunden. Mir gefiel es sie glücklich zu sehen und mir war klar dass ich alles dafür tun werde, damit sie immer so glücklich bleibt. Ich wollte nicht, dass sie die gleichen Gedanken plagten wie mich. Nach dem Frühstück ging ich nach oben um meine Schulsachen zu holen, als meine Mutter mit auf der Treppe entgegen kam. Sie sah von Tag zu Tag erschöpfter aus, sie war nicht mehr die glückliche, gut aussehende Frau, wie noch vor einigen Monaten. Sie nuschelte mir ein „Guten Morgen" entgegen, ich nickte ihr nur zu, während ich ihr Platz machte. Auf dem Weg zur Schule bereitete ich mich schon auf die vielen Menschen, die vielen Berührungen und den Geräuschpegel vor. Ich hasste es. Ich hasste es wenn ich mit meinem Rad vor der Schule entlang fuhr und mich jemand ansah. Ich hasste es mit anderen Leuten durch den Eingang zu gehen. Alle waren so distanzlos. Nach dem achtstündigen Schultag war ich oft genervt, was sich aber legte wenn ich durch die Feldwege nach Hause fuhr, ich liebe die Natur, sie war so unschuldig. Als ich zuhause ankam wurde ich freudig von Kola begrüßt. Ich war ganz allein in unserem Haus, verwundert betrachtete ich den Stundenplan meiner kleinen Schwester. Sie hatte heute bis 15 Uhr Schule, eigentlich müsste sie schon zu Hause sein. Panik stieg in mir auf, aufgeregt lief ich durch das ganze Haus. Nachdem ich sie nirgendwo finden konnte, rief ich aufgeregt meine Mutter an die jeden Tag bis 18 Uhr arbeiten musste. Ich hatte die geringe Hoffnung, dass Emily vielleicht zu ihrer Arbeit gelaufen ist. Meine Mutter hob ab und meldete sich: „Allgemein Medizinische Praxis Holth, Frau Schleier am Apparat, was kann ich für Sie tun?" Sie klang müde und kaputt. Ich antwortete kurz: „Mom ich bin es Lisa", ich hörte sie scharf einatmen, ich glaube es war das erste Mal, dass ich sie auf der Arbeit anrief, sie wusste sofort dass etwas nicht stimmen konnte. „Was ist los?" „Emily ist noch nicht zu Hause, ist sie bei dir?" antwortete ich schnell. Ich hörte ein Zittern in ihrer Stimme als sie verneinte. „Ich gehe sie suchen", mit diesen Worten legte ich auf, schnappte mir Kola und ging hinaus. Während ich die Straße zu ihrer Schule entlang lief, malte ich mir die schlimmsten Szenarien aus.
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Past Lives
Short StorySchlimmer geht immer denke ich mir und versuche mit dem Leben weiterzumachen als wäre nie was gewesen. Als hätten wir nicht unser Haus verloren, als wäre mir nichts zugestoßen, als hätte ich ich nicht jede Nacht mit Albträumen zu kämpfen. Dann wache...