Kapitel 1

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Ungläubig sah er die Frau vor sich an. Sein Herz schlug ihm bis zum Hals, während sein Kopf zäh verarbeitete, was sie ihm gerade mehr oder weniger an den Kopf geknallt hatte. Als er merkte, dass er starrte, ließ er seinen Blick nervös durch das Büro wandern.

Da war Justus gerade mal zwei Stunden zurück auf dem Gestüt, und schon wurde ihm die Pistole auf die Brust gesetzt. Und das auch noch von einer überaus attraktiven Fremden, Annabelle Muhlsee. So hatte sie sich zumindest vor einer halben Stunde vorgestellt.

Das warme Morgenlicht des Spätsommers brach sich in einer schicken Glasvase, die allein auf dem linken Rand des fast leeren weißen Schreibtisches stand. Die Strahlen malten helle Quadrate an die kahlen Wände, an denen an einigen Stellen schlecht verspachtelte Löcher von den Gemälden erzählten, die sie vorher geziert und die reiche Geschichte des Gestüts erzählt hatten.

Dieses Büro war mal sehr heimelig und vollgestellt gewesen. Jetzt wirkte es wie von einem Interieurdesigner minimalistisch und bis auf den grauen Teppich genau durchgestylt und kalt.

Sein Blick blieb an dem, von einer Reihe Aktenordner abgesehen, leeren Wandleiterregal hängen. Es war so ein harter Kontrast zur vertrauten Stuckdecke und den alten weißen Sprossenfenstern. Vorher hatte an der Stelle ein schweres Bücherregal aus warmem Walnussholz gestanden. Bis an die Decke hatten sich Ordner und Bücher darin gestapelt. Jetzt war es einfach nicht mehr wie ein Ort, an dem man gerne mal hier und da eine Stunde verbrachte. Eher wie ein modernes Designergefängnis.

In seinen Adern rauschte das Blut, und er bemühte sich, seiner neuen Chefin ins Gesicht zu sehen.

Sie hatte die Augenbrauen fragend gehoben und den Kopf leicht geneigt. Ihre blauen Augen wirkten dadurch unschuldig, wie die eines jungen Mädchens, wäre da nicht ihr kühler, abwartender Ausdruck.

Ihm lief ein Schauer über den Rücken. „Können ... können Sie das noch einmal wiederholen?" Nervös biss er sich auf die Unterlippe.

Ihre fein manikürten rotlackierten Fingernägel trommelten ungeduldig auf der Tischplatte herum. „Ich sagte, dass ich mich gerne von ihrer Arbeit überzeugen würde, ehe ich eine Entscheidung fälle."

Langsam nickte er und fuhr sich durch die kurzen dunklen Haare. Eine lästige Haarsträhne fiel ihm dabei ins Gesicht. Er pustete sie sich aus dem Gesicht und rang sich ein Lächeln ab.

In seinem Kopf fuhren die Gedanken Achterbahn und vermischten sich mit seiner aufkeimenden Unsicherheit. Das hieß also, er wäre mit Pech bald seinen Job los. Alles nur, weil sein vorheriger Chef entschieden hatte, dass er zu alt für ein Gestüt war, und keine Kinder hatte, die hätten übernehmen können. Ihm wurde schlecht. Warum hatte er sich nur entschieden, seinen Urlaub in der Übergangszeit abzufeiern? Fuck! Wie musste das ausgesehen haben?

Sie drehte den Bürostuhl und streckte sich. Mit ihren langen dünnen Fingern zog sie einen schwarzen Ordner aus dem Regal.

Er zuckte zusammen, als der Ordner mit einem Knall auf dem Schreibtisch landete. Der Computerbildschirm vibrierte unter der Erschütterung.

Sie strich sich eine lange blonde Haarsträhne aus dem hübschen Gesicht, während sie mit einem Finger den Index entlang fuhr und bei seinem Namen stoppte. „Wissen Sie, warum diese Papiere nie digitalisiert wurden?" Es klang beiläufig, trotzdem lief ihm ein Schauer über den Rücken.

„Tristan, also Herr Bülow, war über achtzig. Er hat gerne auf Papier gearbeitet." Was tat das überhaupt zur Sache?

Wie düstere Omen klang das Umschlagen der Seiten in seinen Ohren nach. Angespannt faltete er die Hände im Schoß, während ihm die Angst wie ein Greifvogel im Nacken saß. Mit jeder Seite, die sie umschlug, grub der Vogel seine Krallen tiefer in seinen Rücken.

Chefinnen küsst man nichtWo Geschichten leben. Entdecke jetzt