Kapitel 2

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In seinem Kopf war immer noch nicht ganz angekommen, dass er seinen Job verlieren könnte, als er die neue, viel zu moderne Haustür des Haupthauses hinter sich zuzog. Das unangenehme Gefühl saß ihm immer noch im Nacken. Wer glaubte diese Frau eigentlich, wer sie war? Hatte sie überhaupt jemals mit Pferden zu tun gehabt? Und wo kam sie her? Sie war wie aus dem Nichts aufgetaucht. Es kam ihm vor, als wäre es erst letzte Woche gewesen, dass Tristan ihnen gesagt hatte, dass er das Gestüt verkaufen würde.
Mit wenigen Schritten war er die kleine Steintreppe herunter und an den Rosenbüschen vorbei wieder auf dem Weg zum Stall im Nordwesten des Gestüts. Hufgeklapper hallte von den modernen Backsteingebäuden wieder. Aus dem kleinen Stall, in dem nur ein paar Einstaller und das Lehrpferd Jominte standen, konnte man ein Radio dudeln hören.
Er biss nervös auf seiner Unterlippe herum. Wie konnte er diese Frau davon überzeugen, dass niemand außer ihm diesen Job machen konnte?
Lotte näherte sich ihm, die Schubkarre schwer mit frischem Mist beladen. Die von der Morgensonne beleuchteten hellblonden Wimpern warfen sanfte Schatten auf ihr besorgtes Gesicht. „War's nicht gut?"
Sie hatten noch kurz gesprochen, bevor er zur Chefin gegangen war.
Justus schüttelte den Kopf. „Ist Haage inzwischen aufgetaucht?" Den Auszubildenden hatte er zumindest noch nicht zu Gesicht bekommen.
„Ja, und ich habe ihn direkt losgeschickt, den Kies zu schippen."
„Wenn die Auffahrt heute Mittag nicht frei von jeglichen Löchern ist, dann blüht ihm was!", grummelte er leise und beobachtete, wie Jana, eine Auszubildende im dritten Lehrjahr, eine vollbeladene Schubkarre die schmale Planke am Misthaufen hochbalancierte. „Wir müssen dringend die Miste wieder zusammenschieben."
Lotte seufzte. „Da bin ich raus."
„Ich ziehe jetzt erstmal die Halle ab. Wie lange braucht ihr noch?"
„Vier Boxen, dann ist der Stall gemistet." Lotte hob die Karre wieder vom Boden. Ein leises Ächzen kam ihr über die Lippen. Sie wollte schon weitergehen, da hielt sie inne. „Dakota, du weißt schon, die schwarze Stute in Box sieben, lahmt auf dem rechten Hinterbein. Sah nicht schlimm aus, als ich geguckt habe. Sie hat sich bestimmt nur vertreten. Ich habe sie trotzdem auf den Paddock gestellt."
„Behalten wir im Auge."
Konnte der Tag noch besser werden? Ihm wurde soeben fast gekündigt, und nun lahmte auch noch ein Berittpferd, das in wenigen Tagen eigentlich zurück zu seinen Besitzern sollte. Das Leben wollte ihm wohl den gestreckten Mittelfinger zeigen.
Zähneknirschend lief er um die Reithalle und zum kleinen Unterstand, in dem der Radlader samt Schleppe zum Abziehen der Reithalle stand. Er hoffte nur, dass jemand daran gedacht hatte, am Abend die Sprinkleranlage anzuschalten.

Nachdem er den Hallenboden auf das tägliche Reiten vorbereitet hatte, stellte er den Radlader wieder zurück an seinen angestammten Platz im Unterstand. Mit einem Satz sprang er vom Sitz und landete im vom Regen des gestrigen Tages noch aufgeweichten Boden. Kleine Spritzer setzten sich auf seiner beigen Reithose und den dunkelgrünen Reitsocken ab, die er bis über die Schienbeine gezogen hatte, um später leichter in seine Stiefel zu kommen.
Justus ließ den Blick schweifen. In der Ferne standen die Einstaller grasend unter einigen Bäumen. Das kleine Bächlein, das sich durch die Weide schlängelte, rauschte leise.
Wie sollte er bloß ohne all das klar kommen? Swantje, seine beste Freundin, hatte sich bei seinem Besuch so dermaßen über sein Heimweh lustig gemacht, aber dieses Gestüt hatte einen so festen Platz in seinem Herzen wie kein anderer Ort auf der Welt. Hier war das Zentrum seines Universums. Die Pferde, die Menschen – das alles war so ein immenser Teil von ihm. Wenn er ging, dann müsste er sich das Herz rausreißen!

Widerwillig löste er sich von dem Anblick der friedlich grasenden Pferde, als sich sein Magen meldete. Es war also acht und damit Frühstückszeit. Er sollte sich auf die Suche nach Lotte machen.
Die Müdigkeit machte sich wieder bemerkbar, als er zurück auf den Gestütshof trat. Bleiern legte sie sich über ihn, und jegliche Wirkung des Kaffees schien verflogen.
Lotte kam ihm mit einem Gähnen entgegen. „Ich hab Hunger. Den kleinen Stall und die Einstaller habe ich schon gecheckt."
„Danke." Er musste jetzt erst recht ein Gähnen unterdrücken. „Sag mir bitte du, hast Brötchen dabei."
„Was denkst du denn? Klar. Dein Kühlschrank ist doch bestimmt leer." Sie holte den Schlüssel zu ihrem in die Jahre gekommenen Opel aus der Tasche ihrer dunkelgrünen Wetterjacke. Mit einem Blinken entriegelte sich das Fahrzeug auf dem nahen Parkplatz. „Was war denn nun bei der Hexe?"
Er seufzte und machte eine wegwerfende Handbewegung. Sie musste gar nicht erklären, wen sie mit der Bezeichnung meinte. Er konnte sich nicht vorstellen, dass die Muhlsee zu Lotte netter gewesen war als zu ihm.
„Alles muss man dir immer aus der Nase ziehen!" Schmollend schob sie die Unterlippe vor und kräuselte die kleine Nase. „Gekündigt hat sie dir hoffentlich nicht."
„Keine Sorge. Ich kann dir noch länger auf die Nerven gehen, wenn ich mir keinen Fehler erlaube."

Lotte atmete sichtlich auf und lief zur Beifahrertür ihres Kombis. „Dann ist ja alles gut. Mit wem soll ich sonst jeden Morgen frühstücken?"
Du meinst wohl eher, wem sollst du sonst Predigten über sein Liebesleben halten." Justus beobachtete, wie sie mit den Augen rollte.
Wortlos drückte sie ihm die Brötchentüte in die Hand und schlug die Tür wieder zu. „Was? In deinem Alter war ich schon verheiratet. Und komm mir jetzt nicht mit dem Spruch Männer reifen wie guter Wein."
Justus musste lachen, als sie ihm gegen die Schulter boxte. Er konnte doch nichts dafür, dass ihm bisher noch keine Frau über den Weg gelaufen war, die ihn genug fasziniert hatte, dass er mehr wollte, als nur ein loses Arrangement.
„Wie findest du sie denn so?" Lotte musterte ihn aus ihren tiefbraunen Augen, als wüsste sie genau, dass Annabelle Muhlsee eigentlich genau seinem Beuteschema entsprach.
Er zuckte mit den Schultern. „Sehr unterkühlt."
Lotte seufzte und rollte mit den Augen. „Mehr hast du nicht zu sagen?"
Justus schüttelte den Kopf.
Welche Meinung sollte er bitte von einer Frau haben, die ihm seinen Job wegnehmen wollte, sein Zuhause. Allein bei dem Gedanken an den intensiven Blick, den sie ihm zugeworfen hatte, bildete sich schon eine Gänsehaut auf seinen Armen. Jedes noch so kleine Härchen schien sich aufzustellen, und er hörte ihre sanfte Stimme in seinen Ohren, die in keiner Weise mit dem zusammenzupassen schien, was sie sagte. Das enge Gefühl machte sich wieder in seiner Brust breit, und er versuchte es mit einem Lächeln zu verdrängen. „Fragst du dich nicht, wie sie sich das alles hier leisten konnte?"
Lotte nickte zögerlich und zog ihren Pferdeschwanz nach. Der rote Schotter knirschte unter ihren Schritten. In naher Ferne baute sich sein kleines Backsteinhaus mit den dichten Efeuranken vor ihnen auf. „Ich nehme mal an, dass sie geerbt hat." Ein süffisantes Grinsen bildete sich auf ihren Lippen. „Ein Sugarbaby wird sie mit der Art wohl nicht sein. An der ist gar nichts süß."
Aber einiges verdammt sexy, musste Justus sich unweigerlich eingestehen. Allein diese Lippen und die Art, wie sie den Kopf neigte und dabei die Augen unbewusst leicht aufriss. Sie reizte ihn. Was genau an ihr konnte er noch nicht benennen, aber das würde er schon noch herausfinden.

Chefinnen küsst man nichtWo Geschichten leben. Entdecke jetzt