42. Der Ola-ola

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Es war wohl der Ignoranz der Kolonisten zu verdanken gewesen, dass Nak'Umawea für einen Zeitraum von über dreißig Jahre hatte geheim bleiben können - und das, obwohl die Dschungelstadt quasi vor den Haustüren Manavas errichtet worden war. Zumindest wenn es stimmte, was im Manavaer Tagblatt stand. 

In seinem Wirken als Gendarm hatte Vitus gelernt, dass die Zeitung die schlimmsten Dinge beschwichtigte und Lapalien aufbauschte. Dabei kam es ganz darauf an, wer betroffen war, ob dieser Jemand einflussreiche Freunde hatte und so weiter. 

Diesem Umstand war es auch geschuldet, warum Vitus noch nicht einmal der Landkarte, die im Tagblatt abgedruckt war, wirklich Glauben schenkte. Andererseits stammte die Zeichnung von einem der Soldaten, der bei der Entdeckung der geheimen Dschungelstadt dabei gewesen war. Und da Vitus keinen anderen Anhaltspunkt hatte, musste er sich auf die Karte verlassen. 

Um nach Nak'Umawea zu gelangen, sollte man dem Ola-ola folgen, einem Fluss im Süden von Tarragoss. 

Vor dem Hohen Spitz, Ulakisch Kahi ki'eki'e genannt, lag der Krater eines halb im Meer versunkenen Vulkans - und angeblich hatten die Ulakas dort ihre geheime Stadt erbaut. 

Auf dem Weg dorthin war auch das Leopardental durchqueren, das seinem Namen alle Ehre machte. Ob Vitus eine Begegnung mit den Raubkatzen unbeschadet überstehen würde? Gerade kraulte er Loah am Bauch, der neben ihm auf dem blauen Kanapee lag. Wären die Großkatzen doch auch nur so leicht handzuhaben. 

Doch die nagenden Zweifel verbannte Vitus aus seinem Kopf. Irgendwie würde er schon nach Nak'Umawea gelangen. Außerdem musste er vorher ein ganz anderes Problem lösen.

Ob es richtig war, was er vorhatte? Vitus hatte seine Stellung als Gendarm schon mehr als einmal dazu benutzt, etwas zu tun, das nicht im Sinne des Gesetzes gewesen war. Machalla hatte er beispielsweise immer wieder entkommen lassen. Warum es nie aufgefallen war? Weil Makha-Frauen für die Kolonisten alle gleich aussahen. Jetzt aber würde Vitus eine einigermaßen prominente Dame befreien. Eine, die als Mörderin des Altgouverneurs bekannt war.

Wenn er und Annabella Manava einmal hinter sich gelassen hätten, wäre das Schlimmste überstanden. Abgesehen vom Leopardental. Die Vorkehrungen für eine Flucht aus der Stadt waren getroffen. Auf seinem Kanu hatte er Proviant, Wasser und Kleidung gelagert. Eine Flucht über See. So würde er eine Konfrontation an der Innenstadtmauer vermeiden. Danach würde er nach Süden zum Ola-ola paddeln und diesen hinaufrudern, bis er Nak'Umawea erreicht hätte. Eigentlich klang es gar nicht so schwer. 

Vitus kraulte seinen Kater am Schwanzansatz, sodass dessen Hinterteil immer höher wanderte. "Ich muss auf eine Reise. Ich bringe dich später zu Machalla, damit sie sich um dich kümmert."

Was der Kater von der Idee hielt, machte er deutlich, als Vitus hinter sich die Tür zu seinem Appartement verriegelte. Loah huschte an ihm vorbei, rannte im Treppenhaus hinunter und verschwand durch die Eingangstür in der Abenddämmerung. Vitus suchte ihn in den Nachbargassen, doch der Kater blieb verschwunden. Wie oft würde er ihm noch davonlaufen?

Mit hängendem Kopf trottete Vitus von der Hafenpromenade durch die nach Algen miefende Gasse hinüber zum Hama-Weg, der den großen Hama-Platz durchzog. Dort befand sich neben dem Hospital auch die Gendarmerie, wo Annabella festsaß.

Mit gemischten Gefühlen öffnete Vitus das Eisengittertor zum Hofplatz der Gendarmerie. Kutschen waren der Reihe nach abgestellt, Pferde in den Ställen untergebracht. Fast zwölf Jahre lang war das hier sein tägliches Brot gewesen.

Unter allem Fleiß, den er hatte aufbringen können, hatte Vitus Verbrecher gejagt und gefasst und dafür die Anerkennung seiner Kameraden erlangt. Für ihn war das keine große Sache, schließlich war Vitus mit der Kriminalität groß geworden und so hatte er eben den besseren Riecher für den Täter. Sein Gespür war so gut, dass Gotthart ihn ernsthaft als seinen Nachfolger in Erwägung gezogen hatte. Vitus grunzte, als er die Fassade seines ehemaligen Dienstgebäudes mit den Kargsteinen und Säulen betrachtete: Er würde niemals Prinzipal der Gendarmerie werden - niemals Hausherr über dieses Gebäude. 

Der Mythos von Tarragoss IIWo Geschichten leben. Entdecke jetzt