43.2. Vitus' Aumakua

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Vitus' Kopf sank in ihren Schoß, als Annabella die genannte Adresse manisch wiederholte. "Lekenulustraße vierzehn, Makha-Viertel, oberer Stock." Flackernde Laternen, betrieben mit Fischtran, beschienen die groben Gemäuer. Hilfesuchend, die Arme immer noch um Vitus gelegt, starrte sie Ricardo an.

Der öffnete die Kutschentür. "Müssen wir den retten?"

"Tonto! Bring mich dorthin!", forderte Annabella harsch. "Und hilf mir gefälligst!"

Ricardo verschränkte die Arme. "Was ist er dir wert?"

"Rikki!", keifte Annabella. "Hilf mir!"

"Heirate mich!", forderte er auf. 

Sie schüttelte den Kopf. "Bitte?"

"Ich helfe dir, ihn zu retten. Aber dafür heiratest du mich."
Mit offenem starrte Annabella ihn an.

"Mein Ernst. Ich lass ihn hier liegen, mir geht dieser Tarranack am Arsch vorbei."

Sie war geladen vor Wut. Die Hitze breitete sich in ihrem Kopf aus, sodass Annabella schreien wollte. "Ich hasse dich bis in die tiefsten Abgründe der Unterwelt. Und jetzt hilf mir!"

"Sag ja oder ich gehe", erpresste Ricardo weiter und deutete lapidar auf Vitus. "Und entscheide dich schnell. Der sieht nicht so aus, als würde er es noch lange machen."

Tränen rannen über ihre Wangen und mit zerbrechlicher Stimme ging sie auf den Handel ein. "Dann heiraten wir."

"Na also, geht doch." Ricardo beugte sich vornüber, packte die Beine des Ohnmächtigen und hievte ihn in die Kabine. Annabella stieg mit ein und hielt den Oberkörper. Mit Vitus kauerte sie am Kutschenboden, der, sobald Ricardo die Pferde angetrieben hatte, sanft wackelte. 

Wie schon beim ersten Rendezvous war sie mit Vitus allein in der Kabine, nur war er damals in weitaus besserer Verfassung gewesen. Sein Anblick bließ die Wut hinfort und die Sorgen übermannten Annabella. Ein harter Knoten in ihrem Hals schmerzte, als sie gedanklich immerzu um sein Überleben flehte. 

"Warum bist du noch nicht in Nak'Umaewa?", fragte sie. 

Vitus öffnete leicht die Augen, die das Licht der Straßenlaternen reflektierten. "Ich konnte dich …" Sein Atem ging stoßweise und er musste für wenige Worte alle Kräfte sammeln. "… nicht zurücklassen." 

"Vitus", jaulte Annabella mit brüchiger Stimme und fuhr ihm durchs Haar. Sein Schweiß benetzte ihre Fingerkuppen. Er glühte, als wäre er überhitzt von einem zu langen Sonnenbad. Es war das Gift, das in ihm arbeitete. Tränen rannen über ihre Wangen und ihre Lippen bibberten, als Annabella sich der Hoffnungslosigkeit bewusst wurde.
"Warum musstest du mich retten?" 

Seine Augen wurden wieder kleiner. "Warum hast du dich geopfert?", presste er hervor, ehe er neuerlich das Bewusstsein verlor.

"Das weißt du doch." Bei jedem Wort hatte Annabella unerträgliche Halsschmerzen, als würde ein faustgroßer Stein in ihrem Rachen stecken.

Aus einem Impuls heraus beugte sich Annabella zu ihm hinunter und drückte ihm einen schmatzenden Kuss auf die Wange, die sich nasskalt und doch überhitzt anfühlte. 

War wirklich er es, mit dem sie ihr Leben teilen wollte? Im Moment fühlte sich nichts richtiger und doch ferner an, geriet sofort Ricardo wieder in ihre Gedanken.

Wenn es eine Ewigkeit gab, dann erlebte Annabella diese in den Minuten, in denen sie mit Vitus in der Kutsche saß. Als entflohene Insassin den Mann im Arm zu halten, den sie liebte. Ihre Ahnungslosigkeit, die sie zum Nichtstun verdammte. Wie sie mit ansehen musste, als er schwächer wurde und er allmählich sein Leben unter ihren Händen aushauchte … Annabella zerriss es das Herz. Würde sie ihr Leben für das seine geben können.

Doch Vitus hatte seine Entscheidung bereits getroffen, als er in den Kerker marschiert war. Jetzt war es zu spät, einen Handel mit dem Schicksal oder dem hohen Dagar oder all den Naturgeistern dieser Insel einzugehen. Jetzt konnte Annabella nur hoffen, dass sie Vitus' Schicksal abwenden und zu seinen Gunsten entscheiden konnte.

Als die Kutsche zum Stehen kam, reckte Annabella den Kopf. "Die Innenstadtmauer", wisperte sie und duckte sich wieder, umklammerte Vitus dabei fester. 

Von außerhalb erklang das Gespräch zwischen Ricardo und dem Pförtner.

"Wir müssen kontrollieren."

Ein heißer Stich jagte durch Annabellas Körper. Würde man sie hier entdecken, würde Vitus niemals lebend aus der Situation rauskommen. Sie mussten die Lekenulustraße erreichen!

"Das ergibt keinen Sinn", weigerte sich Ricardo. "Die Drogen werden von außerhalb reingeschmuggelt und nicht von Drinnen raus."

"Befehl ist Befehl. Jedes Gefährt wird kontrolliert."

"Nein! Ihr lasst meine Kutsche in Frieden!"

"Erst, wenn sie kontrolliert ist."

Der Knauf der Kutschentür klackte. Annabella starrte ihrem Untergang entgegen. Das Bild pulsierte vor ihren Augen.

Dann aber rumpelte es, die Kutsche wackelte. Schreie ertönten. Degen wurden gezückt. Mehr Schläge folgten. Sekunden später war alles vorbei und Stille kehrte ein.

Verunsichert rutschte Annabella auf den Knien zur Tür, öffnete diese und streckte den Kopf hinaus. "Ricardo? Alles in Ordnung?"

"Ja", antwortete er belegt.

"Was ist denn passiert?"

Er deutete vage über seine Schulter. "Da war so ein Mann. Er sah aus wie jemand aus der Oberschicht. Er hat all die Wachmänner zusammengeschlagen."

Annabella blickte um sich. Vier Männer in der grauen Uniform der Gendarmerie lagen entlang der Kutsche auf dem Kopfsteinpflaster. Dann wanderte ihr Blick geradeaus. "Dann sollten wir zusehen von hier zu verschwinden. Das Tor ist offen."

Ricardo schüttelte seine Starre ab. "Ja. Genau. Ja, du hast recht. Los geht's." 

Annabella nickte, doch ehe sie die Tür schließen konnte, sprang ein kleiner schwarzer Schatten in die Kabine. Irritiert kniff sie die Augen zusammen, als sie in der Dunkelheit zumindest vier weiße Pfoten ausmachte. 

Sofort schlug sie die Tür zu und sackte in ihrem Unglauben wieder zusammen. Dieses Schnurren. Dieser Kater.

"Loah." Mit dem Handrücken wischte sie sich die Tränen aus dem Gesicht. "Woher wusstest du, dass Vitus hier ist?" 

Da erinnerte sich Annabella an die Neumondnacht, die sie zusammen mit Vitus verbracht hatte und an den Morgen danach, an dem sie seine Halskette gesehen hatte. 

Jetzt öffnete sie den ersten Knopf seines Hemdes und entdeckte die Kette darunter. Ein hölzerner Anhänger in Form einer Katze. Das geschnitzte Relief über seiner Haustür zeigte ebenso eine Katze als seinen Schutzgeist. 

Skeptisch blickte Annabella den Kater an. "Hast du die Gendarmen erledigt? Bist du sein Aumakua?" 

***
Yay, ein Kampf, den ich nicht beschreiben musste, sowas sollte ich öfter machen xD
Jedenfalls heute noch das kurze Update (morgen geht's ans Fußboden legen und angeblich kommt der Schreiner wg. der Treppe. Mal sehen).
Bis bald!

Der Mythos von Tarragoss IIWo Geschichten leben. Entdecke jetzt