46. Grand Hotel Avaya

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Unter wiegendem Geruckel, das Annabella in den Schlaf versetzt hatte, erwachte sie - mit dem Hintern auf dem Kutschboden, den Oberkörper an die Sitzbank gelehnt und die Arme verschränkt. Ihre Fingernägel stachen, als würden Wachskerzen auf ihnen hinunterbrennen. 

Annabella verzerrte das Gesicht und richtete sich auf. Nicht, dass sie je wirklich lange Fingernägel gehabt hätte. Ihre Kauerei ließ das gar nicht zu. Aber gestern Nacht hatte Annabella sich in die Tapeten gekrallt - während Ricardo sie hinausgezerrt und zur Kutsche geschleift hatte. 

Abgeschabt und blutig waren nun ihre Finger. Mit Händen und Füßen hatte Annabella sich gewehrt, hatte geschrien und gekämpft, um bei Vitus zu bleiben.

"Du kannst schon hier bleiben, aber überleg dir das gut. Sonst rufe ich die Gendarmen!", hatte Ricardo gedroht.

Annabella hatte ihm vor die Füße gespuckt. "Tu das! Lieber gehe ich in den Kerker als mit dir ins Paradies!"

"Und er? Denkst du nicht, dass er keine Probleme bekommt, nachdem er einer geständigen Mörderin zur Flucht verholfen hat? Schau ihn dir doch an. Ohne mich kommt er auf einer Flucht keinen Meter weit, in seiner Ohnmacht. Und das nächste, was er sieht, wenn er aufwacht, ist die Kerkerwand."

Und mit diesen Worten war Annabellas Entschlossenheit wie ein Kartenhaus in sich zusammengefallen, war vom Winde verweht wie eine Feder. Immerhin musste Vitus noch immer zu den Ulakas und sie beschützen. Ihre Muskeln waren erschlafft und sie war wie ein nasser Lappen in Ricardos Armen gehangen, während ihr die Tränen von den Wangen getropft waren.

Danach hatte Annabella sich in den Schlaf geweint und als ihr die gestrigen Erlebnisse bewusst wurden, wurden ihre Augen wieder feucht. Getrennt von der Liebe ihres Lebens ihr Dasein fernab der Heimat fristen zu müssen - welche dunkle Wege das Schicksal für Annabella bereithielt, hatte sie vor drei Monaten noch nicht einmal erahnt.

Doch ebendieses Schicksal wurde mit jedem Meter, den die Kutsche in Richtung Avaya entgegenrollte, gewisser. Annabella schien es in Stein gemeißelt, als sie nach eineinhalb Tagen durch die Gassen der Küstenstadt fuhren. Schmiedeeiserne Zäune friedeten Gärten mit gestutzten Büschen und getrimmten Rasen ein.

Soweit Annabella wusste wohnten in Avaya keine Makha. Die weiteren Küstenstädte waren erst nach Manava gegründet worden - zu einem Zeitpunkt, da sich die missbrauchten Ulaka-Frauen bereits in der Nähe der ersten Stadt niedergelassen und die restlichen Einheimischen sich vor den Eindringlingen im Urwald versteckt hatten. 

Insgesamt war Avaya also das, was man bestenfalls als verschlafenes Nest bezeichnete. Große Schiffe legten selten bis nie an. Umso verwunderter war Annabella, dass Olivia ausgerechnet von hier aus nach Madras fliehen wollte. Vielleicht auch deshalb, weil niemand sie hier vermuten würde. Ihre Tante war seit jeher eine scharfsinnige Frau. 

Zum Ortskern hin wichen die Gärten den Reihenhausgassen, die sich wie weiße Kalksteinblöcke aneinanderreihten. Wäscheleinen waren quer über die Straßen gespannt, an denen Kleidungsstücke im Wind wehten.
Im Zentrum, wo Ricardo die Pferde zügelte, fanden sich ein paar Restaurants, Cafés und Bekleidungsgeschäfte. Der große Trubel blieb aber aus und so waren unter den essigroten Sonnenschirmen allenfalls drei Tische einer jeden Lokalität besetzt. 

Annabella hatte nicht den Mut auszusteigen. Hatte die Neuigkeit der entflohenen Mörderin die Stadt bereits erreicht?

Ricardo öffnete die Tür nur einen Spaltbreit, durch den das Licht der tiefstehenden Nachmittagssonne auf Annabella fiel. "Ich hör mich mal um, ja? Du wartest derweil hier."

Stumm nickte sie, knetete ihre Daumen, nur um dann doch an ihren Fingernägeln zu kauen. Was, wenn die Gendarmerie hier bereits wartete? Annabella drückte sich in das Polster der Sitzbank und stierte aus dem Fenster. Möwen kreisten über dem Hafen ganz in der Nähe, deren penetrantes Geschrei Annabellas Haare aufstellen ließ.

Der Mythos von Tarragoss IIWo Geschichten leben. Entdecke jetzt