(2) Wohin, wenn man nichts mehr hat?
Ich starrte auf die Leiche. Meine Leiche. Erst jetzt bemerkte ich, dass ich über der Szene schwebte, körperlos. Panik kam über mich, dass ich fallen könnte. Ich könnte stürzen, mir etwas brechen- aber wie sollte ich denn bloß hier runter kommen? Ich bin tot. Ich konnte mir gar nichts brechen. Langsam näherte ich mich dem Boden und als ich am Boden ankam bemerkte ich, dass ich doch eine Art Körper hatte. Ein wenig durchscheinend und kalkweiß, aber ich hatte einen Körper. Apatisch blickte ich auf meine Hände, durch die ich den dunklen Asphalt sehen konnte. Ich bin tot.
Für ein paar Minuten stand ich da, mein Blick auf meine Hände und zusammenhangslose Gedanken schossen mir durch den Kopf.
Müsste jetzt nicht mein Leben an mir vorbeiziehen?
Wer holt denn jetzt die Wäsche aus dem Trockner?
Gibt es nicht in Filmen immer ein Licht in das die Toten gehen?
Ich blickte auf und suchte in irrationaler Hoffnung ein scheinendes Licht, damit ich wüsste wohin ich gehen sollte. Aber da war kein gleißendes Hollywoodlicht. Da war nur das blinkende Blaulicht der Rettungswagen, die gelblich schimmernden Laternen und der Bildschirm des Handys von einem Polizisten und keins dieser Lichter schien mir sonderlich danach eine Pforte ins Nirwana zu sein.Rückblickend denke ich, dass ich sowohl in meinem Menschen- ,als auch in meinem folgenden Geisterleben hellere Momente hatte und fragte mich, wieso ich in so einem Moment auf solche Gedanken kam- vermutlich war es der Schock.
Aber egal.Ich blickte herüber zu den Rettungswagen und sah wieder den Jungen von eben und jetzt wusste ich auch wer es war. Meine Stimmung hellte sich ein klein wenig auf und ich rannte auf ihn zu "Tyler!" Rief ich seinen Namen, erleichtert jemanden zu kennen und ein Ziel zu haben, wo ich hinwollte. Doch er reagierte nicht. Mittlerweile stand ich direkt vor ihm. Er guckte genauso, wie ich eben auf meine Hände: vollkommen leer. Seine Augen fixierten nichts und doch lagen sie still auf einem Ort, der weit weit weg zu sein schien. "Ty?" sagte ich nochmal, diesmal ängstlich. Ich bin tot. Schoss es mir wieder durch den Kopf. Er konnte meine Stimme nicht hören. Er konnte mich nicht sehen. Ich bin tot. Ich wollte mich an irgendetwas festhalten, denn plötzlich hatte ich das Gefühl mich nicht mehr auf meinen Beinen halten zu können. Ich griff nach seinem Arm um mich abzufangen, doch fuhr ich durch ihn hindurch als gäbe es ihn nicht. Oder als gäbe es mich nicht, dachte ich, als ich fiel. Ich lag auf der Straße. Ich war mitten durch ihn hindurchgefallen. Sein Fuß stand irgendwo in meiner Magengegend und ich fühlte einen kalten Schauer meinen Rücken runterlaufen. In dem Moment kam ein Mann und legte ihm eine Hand auf den Rücken. Ich rappelte mich langsam auf und starrte meinem besten Freund nach, wie er davongeschoben wurde. Ty? Irgendwo dunkel in einer Ecke meines Gehirns meldeten sich auf irgendeinem Seminar erworbene Kentnisse: SAFE-R Modell. Erste Phase: Stimulanzverminderung, z.B. durch weggehen oder wegführen von der akuten Kriesensituation.
Ich folgte den beiden mit ein wenig Abstand. Einmal wich ich nur knapp einer Polizistin aus. "T'schuldigung" sagte ich und merkte dann, dass das unnötig war. Ich bin tot. Immernoch klang der Satz fremd. Irgendwie unwirklich und gestellt.Ich hatte den Seelsorger und Tyler aus den Augen verloren, doch ich wusste auch nicht wirklich was ich dort tuen sollte. Er nahm mich nicht wahr. Ich bin tot. Gestorben vor den Augen meines besten Freundes.
Ich ging wieder zurück zu der Stelle wo mein Körper eben noch gelegen hatte. Mein Körper war weggebracht worden und irgendwie war ich erleichtert. Ich wollte mich nicht nochmal sehen. Nicht meine Leiche angucken. Ich blickte auf die Markierungen auf dem Boden. Dann ging ich rüber zum Auto. Mein geliebter Polo. Die Frontscheibe war komplett herausgesplittert. Bin ich durch die Windschutzscheibe durchgeflohen? Der Rest des Autos sah auch nicht viel besser aus. Die Motorhaube war komplett zerdrückt und Lack- und Glassplitter vermengten sich zu einem Chaos auf der Fahrbahn.
Auch hier konnte ich keine Ruhe finden und ich fragte mich wohin ich gehen könnte. Ich wollte mich in mwin Bett einrollen und vielleicht noch eine Folge irgendeiner Serie gucken und darüber einschlafen. Nur ging das nicht, da ich mich nicht unter meine Decke legen könnte.
Mich langsam im Kreis drehend fragte mich wohin ich gehen sollte, doch da ich keine Richtung wusste ging ich letztendlich einfach die Straße weiter herunter, die ich langgefahren war. Stundenlang schlich ich durch die Straßen der mittelgroßen Stadt in der ich lebte und aufgewachsen war. Als ich aufblickte merkte ich das ich unbewusst zu meiner Wohnung gegangen war. Wie komm ich jetzt ohne Schlüssel dorthinein? fragte ich mich und starrte die Eingangstür an, als würde die Antwort dort erscheinen.
Nach mindestens weiteren 20 Minuten kam mir eine Idee. Wenn ich eben durch Ty hatte durchfallen können, konnte ich das dann jetzt auch bei der Tür?
Unschlüssig stand ich vor der Haustür und streckte vorsichtig einen Finger aus. Ich kann da durch. Ich kann da durch. Ich kann da durch. Sagte ich mir Gedanklich wie ein Mantra. Und tatsächlich fuhr die Spitze meines ausgestreckten Zeigefingers durch das Holz und verschwand darin als wäre es Luft. Ich schrie erschrocken auf und machte einen Satz nach hinten. Idiotin. Das war doch das was du wolltest! Scholt ich mich in Gedanken. Dann atmete ich tief ein und trat durch die Tür. Erstaunt blickte ich auf der anderen Seite an mir herunter. Alles schien in Ordung und ich ging die Treppe des Hausflurs eine Etage nach oben wo meine Wohnung war. Auch da ging ich wieder durch die Tür. Ich blickte auf meine Wohnung. Oder meine frühere Wohnung? Sie war ziemlich klein und nur spärlich möbliert, denn die meiste Zeit wohnte ich bei meinem Freund. Mein Freund. Jasper. Sollte ich nicht zi seiner Wohnung gegangen sein? Merkwürdiger Weise krampfte sich mein Herz nicht so zusammen wie bei dem Gedanken an Ty oder meine Eltern oder auch mein kleiner Bruder Jay. Plötzlich, hier, tot in meiner Wohnung stehend erkannte ich warum ich mich nie von den paar Möbeln und den schäbigen Räumen hatte trennen können. Icht weil es eine gute Geldinvestition war. Oder weil ich nostalgisch werden würde-ganz ehrlich fand ich die Wohnung schon immer hässlich mit der Aussicht auf amdere schäbige Wohnbauten und Wänden, die dünn wie Pappe waren. Tief in mir hatte ich gewusst, dass Jasper mir nicht so wichtig war wie es hätte sein sollen. Musste ich tatsächlich sterben um das zu erkennen?
Ich legte mich auf die Tagesdecke, die auf meinem Bett lag und wünschte mir, dass wenn ich aufwachte alles wieder normal wäre. Ich wünschte mir zu schlafen.Und obwohl, oder gerade weil ich in diesem Moment nicht darüber nachdachte ob man als Tote schlafen konnte, fielen meine Augen zu und sie gingen erst wieder auf, als die Sonne irgendwo hinter den Straßen und Häusern Berlins an den Himmel stieg.
Danke fürs Lesen :) Ich freue mich natürlich wieder auf und über Votes und Kommentare
See you
-darkestsideofme
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Tagebuch einer Toten
Roman pour AdolescentsAls Tess stirbt weiß sie nicht mehr weiter. Sie sieht alles: wie ihre Eltern trauern, wie ihr kleiner Bruder immer wieder nach ihr fragt und wie ihr bester Freund sich immer mehr zurück zieht und auf die schiefe Bahn zu geraten droht. Allerdings kan...