Nummer 7️⃣4️⃣

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„Wir sehen uns in der Hölle" flüsterte sie ihm ins Ohr und drückte das Messer endgültig in seine Brust. Mit einem Ruck zog sie das Messer raus und der Körper ihres Klassenkameraden fiel mit ihr auf den Boden. Sie legte den leblosen Körper sachte ab und schloss dessen Augen endgültig. Sie stand auf und lief zur Tür auf der anderen Seite des Klassenzimmers. Neben der alten Holztür befand sich ein Waschbecken, auf dessen Rand sie das blutverschmierte Messer legte. Sie schaute in den darüber liegenden Spiegel, wusch sich die letzten Blutspritzer aus dem Gesicht und verließ den Raum mit einem lauten Knall der Tür.

Die Musik aus der Turnhalle wurde lauter mit jedem Schritt, den sie näher heran lief. Als sie die Turnhalle betrat, nahm sie sich ein Getränk vom Tisch und wartete bis die nächste Person angerannt käme, ihr sagen würde, dass ihre smaragdgrünen Augen wunderbar zu ihrem weißen Kleid passen würden und sie zum Tanzen auffordern würde. Lange konnte sie nicht warten, denn einige Minuten später wurde sie auf die Bühne geschoben und als Abschlussballkönigin gekrönt. Wie es sich zur amerikanischen Tradition gehörte, musste der erste Tanz von König und Königin groß gefeiert werden. Doch während des Tanzens ging ihr aber nur eine Sache durch den Kopf und das war die pure Lust zum Töten. Sie hielt es nicht aus, das Herz in der Brust von Keith schlagen zu spüren und auch wenn sie ihren Kopf an seinen Hals legen würde, wäre der Drang da, die Halsschlagader aufzuschneiden. Sie wusste, dass sie es nicht  schaffen würde den gesamten Tanz dem Drang zu widerstehen. Dazu war der Drang zu groß. Mit jeder Sekunde, die verging, stieg die Lust mehr und mehr Blut zu sehen. Die Lust sich an den Menschen zu rächen, die ihr Unrecht getan hatten. Die Lust den Menschen zu zeigen wer sie wirklich war und zu was sie im Stande war.

Tief im Inneren wusste sie aber genau, dass wenn herauskäme was sie nichtmal zehn Minuten vorher getan hat, sie ihren guten Ruf verlieren würde. Ihr Ruf war ihr in dem Fall das Wichtigste. Sie konnte es nicht riskieren den auch noch zu verlieren. Also musste sie ihre, für sich altbekannte Taktik anwenden.

Sie zog sich aus den fest umschlungenen Armen und rannte aus der Turnhalle in Richtung Schulgebäude. Ein entsetzendes Raunen ging durch die Menge, aber sie konnte nur an das Blut denken. An den Schmerz, den er spüren würde, wenn das Messer in seine Brust gleiten würde. An den Blick, den er ihr zuwerfen würde, in welchem sie die Enttäuschung sehen würde. An den Moment, an dem sie das Messer wieder aus seiner Brust ziehen würde und er in ihre Arme fallen würde. An die flehenden letzten Worte, mit denen er um Vergebung bettelt und verspricht, dass er von diesem Abend niemandem erzählen würde. Dieselben letzten flehenden Worte, die sie schon dreiundsiebzig Mal davor gehört hat und trotzdem hat sie alle dreiundsiebzig Menschen vor ihm auch schon ermordet. Davon konnte er aber nichts wissen, denn keine der Leichen wurde je gefunden. Und das war auch besser so. 

Gerade aber als sie das Schulgebäude betreten wollte, um ihre Lust nach dem Blut und nach dem Morden kontrollieren zu wollen, hörte sie Keith nach ihr rufen. Sie drehte sich um rannte weiter ins Schulgebäude und er ihr gleich hinterher. Sie rannte, ohne sich umzudrehen, in den Raum, in dem die Leiche von vorhin lag. Als sie den Raum betrat griff sie mit ihrer linken Hand nach dem Messer, welches immer noch auf dem Rand des Waschbeckens lag, versteckte es unter ihrem Kleid und stellte sich in die Mitte des Raumes. Keith betrat den Raum, doch blieb ziemlich schnell stehen als er sah was oder besser gesagt wer da hinter ihr auf dem Boden lag. Sein Herz blieb für einen Moment stehen, gefolgt von unfassbarem Schmerz, ihm liefen einige Tränen über die Wange und er fiel auf seine Knie. Er konnte einfach nicht glauben was er da sah. Er konnte es nicht glauben, dass er wirklich tot  war. „Hast du?" fragte er mit zitternder Stimme.

„Nein, ich habe ihn hier schon so gefunden" log sie zurück. Sie kniete sich hinter ihm nieder und umarmte ihn. Er fiel rückwärts auf ihre Brust. Sie spürte, dass ihm dadurch eine Last von den Schultern fiel und er sich sicher in ihren Armen fühlte, aber bei ihr löste es pure Freude aus. Sie sah den Menschen leiden, der für ihr Leiden zuständig war. Er war derjenige, weswegen sie jahrelang leiden musste. Er wusste genau, welche ihre Schwachstellen waren und nutze diese aus. Er war derjenige, der die Schüler dazu anstiftete sie zu mobben und fertig zu machen. Sie brauchte jahrelang Therapie, damit sie wieder die Schule betrat und die Vergangenheit sie nicht einholte. Jahrelange Arbeit, um einen guten Ruf aufzubauen und niemand sie mehr fertig machte. Ihre Vergangenheit machte sie fertig und wollte sich jetzt rächen.

Sie nahm seine Hand, während das Loch in seinem Herzen von Sekunde zu Sekunde größer wurde. Sein Bruder lag vor ihm, mit einem Loch in der Brust. Das weiße Hemd voller Blutspritzer und der Hals voller kleinerer Wunden, dachte er zumindest.

Ein unfassbarer Schmerz zog ihn aus seinen Gedanken. Der Schmerz kam von seinem linken Arm. Dem Arm, den sie gerade noch hielt und ihm Sicherheit schenkte. Er sah an seinem Arm hinunter und sah wie sie mit einem Messer etwas in seinen Unterarm schrieb. Er wollte seinen Arm wegziehen doch sie hielt ihn so fest, dass er es nicht konnte.

„Du Psychopath!" brüllte er sie an, laut genug, dass er hoffte, dass ihn jemand hören würde. „Du warst es oder nicht? Das mit meinem Bruder?" ergänzte er aufgewühlt. Sie blieb still und  legte seinen Arm ab, der inzwischen die Nummer 74 zierte.

Er wollte sich aufrichten und weg von ihr, doch sie schlang ihren Arm um seine Taille und hielt ihm das Messer an die Kehle. Sein gesamter Körper zitterte vor Angst, doch sie erfreute sich bei diesem Anblick.

Er realisierte, dass er der nächste sein würde. Deshalb ist sie bei dem Tanz rausgerannt. Sie wusste, dass er ihr hinterherlaufen würde. Sie hat ihn mit Absicht in den Raum geführt, in dem die Leiche seines Bruders lag. Sie wusste, dass er vor Schmerz gekränkt wäre. Sie wusste, dass er jemanden brauchen würde, in dessen Arme er sich legen könnte und weinen könnte. Sie wusste all das und freute sich an den Schmerz, den er fühlte. Sie freute sich, die  Enttäuschung in seinen Augen zu sehen. „Bitte. Bitte nicht", flehte er sie an doch sie war es leid diese flehenden Worte zu hören und drückte ihm das Messer mit einem Ruck in die Brust.

Und da stand sie nun mit einem Kanister Benzin in der einen Hand und einem Feuerzeug in der anderen.

Nummer vierundsiebzig - KurzgeschichteWo Geschichten leben. Entdecke jetzt