Prolog | Von Worten

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Quinn

Ich will hier nicht sein. Ich will umdrehen. Das ist eine blöde Idee, eine ganz blöde. Es ist noch nicht zu spät. Ich kann einfach wieder gehen.

Aber ein unsichtbares Band zieht mich weiter durch die Flure der Entzugsklinik, immer näher zu Zimmer 204. Aidens Zimmer.

In den letzten Wochen hab ich versucht, zu vergessen. Seinen leeren Blick im Gerichtssaal, seine letzten Worte, die ich von ihm gehört habe, all das wollte ich vergessen. Aber ich konnte es nicht.

Aiden hat mich in meinen Träumen verfolgt, mich wachgehalten und dafür gesorgt, dass ich ihn ja nicht vergesse. Und deshalb bin ich jetzt hier. Weil ich nicht vergessen kann.

Ich bleibe vor dem Zimmer stehen, streiche mir meine Haare hinters Ohr und klopfe dann. Und als meine Knöchel das Holz berühren, will ich weglaufen. Ich will Aiden sehen, aber gleichzeitig auch nicht. Es ist zum Verrücktwerden.

Ich rechne damit, dass er mir die Tür öffnet, aber stattdessen steht eine blonde, junge Mitarbeiterin vor mir. Sie lächelt und tritt zur Seite. "Du musst Quinn sein. Komm rein."

Ich nicke nur und gehe an ihr vorbei ins Zimmer. Irgendwie ist es kalt. Und damit meine ich nicht die kalten Oktobertemperaturen draußen, sondern die Atmosphäre im Raum. Es ist kalt.

Ich bleibe vor dem Tisch, an dem Aiden sitzt, stehen. Er hat den Blick gesenkt, sieht mich nicht an. Seine Haare sind nicht mehr blond, stelle ich fest, sondern schwarz mit blonden Spitzen. Sie gehen ihm bis ans Kinn und gegen meinen Willen denke ich, dass es gut aussieht. Es steht ihm.

Die Mitarbeiterin verlässt den Raum und wir sind allein. Langsam lasse ich mich auf dem Stuhl vor mir nieder und wende meinen Blick keine Sekunde von Aiden.

Erinnerungen kommen zurück, Erinnerungen, die ich schon vergessen habe. Wie wir uns Milchshakes bestellt haben und dann einfach weggerannt sind. Wo er mich zum ersten Mal geküsst hat. Wie er gesagt hat, er liebt mich, oder, als ich ihn zum ersten Mal gesehen habe.

Vor ein paar Tagen noch habe ich wegen solchen kurzen Momenten der Erinnerung geweint, aber jetzt bin ich...glücklich. Ich bin glücklich, weil er da ist.

"Willst du nichts sagen?", reißt mich plötzlich Aidens Stimme aus meinen Gedanken. Verwundert blinzle ich kurz. Er hat den Kopf gehoben, starrt mich jetzt direkt an.

"Doch, ich äh...", stammle ich und verfluche mich selbst. Warum bringt er mich so aus dem Konzept? "Ich hab nur nach den richtigen Worten gesucht."

"So?" Er hebt eine Augenbraue. "Und hast du sie gefunden?"

Ich zögere. "Ich weiß nicht", gebe ich ehrlich zu und sehe, wie seine Augen kurz aufleuchten, bevor sie wieder so leer werden, wie auch schon beim Prozess. Es bricht mir das Herz, ihn so zu sehen.

"Ich weiß es auch nicht."

Ich schweige und er schweigt auch. Wir schweigen uns eine ganze Weile an, bis ich schließlich leise seufze. "Ich habe dich vermisst."

"Ich dich auch. Mehr, als du dir vorstellen kannst." Von seiner kalten, gemeinen Art ist nichts mehr übrig, Aiden sitzt wie ein Häufchen Elend vor mir und sieht auf den Tisch.

Ich habe den Drang, zu weinen, einfach, weil die ganze Situation zum Heulen ist. Wir sitzen hier wie zwei Fremde, dabei waren wir viel mehr als das. Aber meine Augen bleiben trocken.

"Du hast mich betrogen", meine ich. Wir kommen um dieses Thema nicht herum, irgendwann müssen wir darüber reden. Und aufschieben hilft auch nichts.

"Du hast mich verletzt", rede ich weiter. "Du hast mit einer anderen geschlafen, während ich im Hotel war."

"Ich weiß."

"Willst du es nicht erklären?" Sein Schweigen geht mir auf die Nerven. Als hätte er nichts dazu zu sagen.

"Du hast selbst gesagt, ich soll mir das sparen", entgegnet Aiden und sieht mich direkt an. Ganz kurz werde ich aus dem Konzept gebracht, von seinem intensiven Blick, aber schnell habe ich mich wieder unter Kontrolle.

"Ich möchte es aber verstehen, Aiden."

"Es ist schwer, über etwas zu sprechen, was mein Leben ruiniert hat", meint er leise, während er seine Hände auf den Tisch legt. Fast automatisch greife ich danach.

"Du kannst es versuchen."

Er schüttelt fast unmerklich den Kopf. "Wusstest du, dass das Gericht meine Mom verständigt hat?", wechselt er das Thema.

Überrascht und gleichzeitig auch ein bisschen wütend, dass er meine Frage nicht beantwortet, hebe ich eine Augenbraue. "Nein."

Aiden nickt. "Doch. Weil ich noch minderjährig bin, deshalb. Sie musste die Papiere für die Klinik unterschreiben."

 Fast wäre mir ein „Es tut mir leid" rausgerutscht, aber ich halte es auf. Wahrscheinlich ist das das Letzte, was er hören will.

"Hast du mir ihr gesprochen?", frage ich stattdessen.

"Ich habe ihr nichts zu sagen." Das ist eine Lüge, das wissen wir beide.

Ich zucke mit den Schultern, um ihm zu sagen, dass ich weiß, dass er Schwachsinn redet. "Wenn du das sagst."

Er antwortet nicht und wieder schweigen wir uns an. Ich hasse es. Warum können wir uns nicht anschreien, wie normale Leute, die sich gerade getrennt haben? Warum ist es so komisch zwischen uns?

"Wie geht es den anderen? Jordan, Grayson, Olive?", frage ich.

Aiden zuckt mit den Schultern. "Keine Ahnung. Wir haben keinen Kontakt." Er nimmt seine Hände aus meinen und seufzt. "Ich kann es kaum erwarten, hier rauszukommen."

"Lieber hier sein als im Gefängnis", meine ich leise, aber er hört es.

Sein Mund verzieht sich kurz zu einem Grinsen. „Stimmt."

Ich werfe einen Blick auf die Uhr an der Wand. Es ist Zeit, dass ich wieder gehe. Ich weiß nicht, wie lange mein Körper das Nicht-Weinen noch aushält.

"Ich sollte dann gehen." Ich stehe auf und er folgt mir mit seinem Blick, wie ich langsam zur Tür gehe. "Mach's gut, Aiden."

"Quinny-Pooh?" Ich drehe mich um, froh, dass er überhaupt noch was gesagt hat.

"Was?"

"Ist es fair, zu sagen, dass ich dich liebe?"

Und genau in diesem Moment bricht der Damm und die erste Träne läuft meine Wange hinab, bis sie auf meinen Pullover tropft. Verdammt. Ich will nicht weinen.

"Nein." Weinend schüttle ich den Kopf. "Das ist es nicht."

Stations - Let Me Love You Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt