Kapitel 1: Unterwegs im Regenwald

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Es war kurz nach drei Uhr am Nachmittag, als es mir gemeinsam mit meiner älteren Schwester Julia und meinem jüngeren Bruder Maris gelang, Mum auszutricksen.

So konnten wir ungestört in den Regenwald gehen, den Ort, an dem ich mich mehr Zuhause fühlte, als irgendwo sonst (Okay, ich gebe zu: Unser Haus steht genau neben dem Regenwald).

Sosehr ich den Wald auch liebte; ich fürchtete ihn auch. Die unzähligen Tierarten waren teils so gut getarnt, dass man sie erst bemerkte, wenn es bereits zu spät war.

"Fernando, pass auf", rief Julia.

Seht ihr, es ist mal wieder geschehen: Ohne meine Schwester wäre ich voll in die junge, etwa zwei Meter lange Anakonda hineingelaufen, die mir gerade mit offenem Maul drohte. Peinlich, wenn man bedachte, dass sich die Schlange auf einer Stelle befand, wo man sie sehr gut sehen konnte.

So schnell wie ich mich traute (also ziemlich langsam) wich ich zurück, um den Jagdreflex der Schlange nicht zu triggern.

Ich wollte gerade aufatmen, da stürzte sich etwas von hinten auf mich.

"WAS ZUM TEUFEL MACHT IHR HIER?!", donnerte Natalie, was nicht häufig vorkam. "WIE OFT MUSS ICH EUCH NOCH SAGEN, DASS IHR NICHT ALLEINE IN DEN WALD SOLLT! HÄTTET IHR MICH EINFACH GEFRAGT, OKAY, ABER NEIN..."

"Mum, es ist so...", setzte ich an, doch ich wurde von Natalie unterbrochen.

"Verdammt, denkt an euren Vater!" Jetzt schimmerten Tränen in ihren Augen. Unser Vater war vor sechs Jahren von uns gegangen, als ich sieben war. Er war eines Tages nach seltsamen Geräuschen in den Wald hineinmarschiert und wurde danach nie wieder gesehen.
"Wenn jemand mit euch in den Wald geht, bin ICH das, verstanden?"

Wir nickten betreten und versuchten, die Tränen, die in unsere Augen gestiegen waren, wegzuzwinkern.

Dann gingen wir alle gemeinsam weiter. Sonderlich schnell kamen wir nicht vorran; dazu war der Wald viel zu Dicht.

Etwa eine halbe Stunde lang marschierten wir durch den Wald, bis die Bäume weniger wurden und ein gigantischer Fluss vor uns sichtbar wurde.
Der Amazonas.

Wir setzten uns auf die vier Steine, die aussahen als wären sie für uns geformt, und blickten über den Fluss.

Ich konnte es selber kaum glauben, als vor uns Amazonas-Delfine sprangen.

"Wie viele es von denen wohl noch gibt?", fragte Julia traurig und blickte den Säugern hinterher.
"Eindeutig nicht genug.", meinte ich finster, was mir beim Anblick solch schöner Tiere nicht leicht fiel.

Wir sahen dem Amazonas noch lang zu, wie er sich vor uns durch den Urwald wälzte. Ein wunderschöner, doch gleich gefährlicher Strom, wie wir alle wussten: Erst vor zehn Tagen waren drei Menschen beim schwimmen ertrunken.

"Ich denke, wir sollten uns auf den Rückweg machen", schlug Natalie vor, nachdem sie ihren Blick vom Fluss gelöst hatte.

Schweigend machten wir uns auf den Rückweg, während die Sonne den Himmel in ein rot-orangenes Licht tauchte. Die Bäume warfen lange Schatten, die ich jedoch schon oft genug gesehen hatte, um sie nicht mit Tieren zu verwechseln.

Das war insofern zwar praktisch, wenn man schnell durch den Wald wollte, und sich aus Angst nicht andauernd umdrehte, aber gleichzeitig war es auch eine Gefahr. In der Dunkelheit war es für Tiere ein leichtes, sich anzupirschen, oder in Deckung zu bleiben; besonders wenn man nicht allzu sehr auf die Umgebung achtete.

Um acht Uhr abends erreichten wir unser kleines Haus am Waldrand, in dem wir lebten, alle vier. Zu den Zeiten, in denen unsere Familie noch vollständig waren, lebten hier neben mir, Maris, Julia und Natalie noch mein Vater und meine jüngere Schwester Dara.

Wir hatten nie wirklich herausgefunden, was unseren Vater getötet hatte, aber wir gingen von einem Jaguar oder einer Anakonda aus.

Dara war mit gerade einmal drei Jahren an einer schweren Lungenentzündung gestorben. Ich kann mich noch gut an die Tage nach ihrem Ableben erinnern. Natalie hatte tagelang geweint, und war für nichts da gewesen. Generell war die Stimmung in der Familie schlecht gewesen, die sie auch heute noch war: Natalie hatte jetzt einen schlechter bezahlten Job, weil ihr ein Arzt klar gemacht hatte, sie brauche mehr Ruhe und Zeit für sich.

Natalie stemmte die Tür auf und wir traten ein. Nachdem ich mir die Hände gewaschen hatte (sehr sparsam; dass Wasser war verdammt teuer) ging ich in das Zimmer, welches ich mir mit meinen Geschwistern teilte, um mich dort aufs Bett zu legen, und in den Sonnenuntergang zu schauen.

Und wieder zog mich der Regenwald in einen magischen Bann. Mich hätte es nicht gewundert, wenn ich in den dreißig Minuten, die ich stumm da lag, nicht einmal geblinzelt hatte.

Ich war mir nur sicher, dass ich es jetzt getan hatte, weil Natalies Stimme gerade unüberhörbar verkündete, es gäbe Abendessen.

Ich stand auf und flog fast direkt wieder hin. Meine Beine waren komplett eingeschlafen. Zum Glück landete ich in der Bettdecke, die ich nur wenige Sekunden zuvor aus versehen vom Bett herunter geschoben hatte.

"Ich komme!", gab ich bekannt und erschien kurz darauf im Türrahmen.
Als Maris endlich da war, konnten wir anfangen. Natalie hatte das Lieblingsessen von mir, Maris und Julia zubereitet: Reis mit Pilzen und extrem scharfer Soße. Wenn wir alle ehrlich wären, mochten wir das Gericht nur wegen der Soße.

Ich schaufelte meinen Teller in Rekordzeit in mich hinein, was Julia zu einem grinsen verleitete.
"Willst du Winterschlaf halten? Ich glaube, wenn du jetzt damit anfängst, wachst du Mitte Januar wieder auf."

Ach, das war mal wieder typisch. Unsere liebe Miss-Biologie-Expertin-Julia hatte mal wieder einen super-Witz fallen gelassen, den Maris noch nicht einmal kapierte, zumindest, wenn ich seine verständnislose Miene richtig interpretierte.

"Ein normaler Winterschlaf, den Menschen nicht einmal halten können, dauert nämlich...", begann Julia in einem fachmännischen Ton. Glücklicherweise wurde ihre Belehrung von Natalie unterbrochen, die ihr einen leicht genervten Blick zuwarf.

Kaum waren wir mit essen fertig, kehrte Stille ein. Jeden Tag nach dem Abendessen dachten wir zehn Minuten an unsere beiden verstorbenen Familienmitglieder.

Dann war es Zeit fürs Bett.

Wir wechselten uns jeden Tag ab, weil eins der Betten am Fenster stand, von dem man in den Regenwald sehen konnte. Heute war Maris dran. Ich legte mich in eins der beiden anderen Betten und war heute ausnahmsweise mal froh, nicht am Fenster zu liegen: Morgen stand eine Mathe-Klassenarbeit an, für die ich fit sein musste. Sollte ich heute am Fenster schlafen, hätte es sicher eine Stunde gedauert, bis ich es tatsächlich schaffen sollte.

Langsam aber sicher versank ich ins Land der Träume.

Die Zerstörer der NaturWo Geschichten leben. Entdecke jetzt