Vier Tage hatte er jetzt schon in seinem Bett geschlafen, an seinem Schreibtisch gesessen und in seinem Sessel und eins von seinen Büchern gelesen und trotzdem fühlte sich alle total fremd an und er war sich sicher, dass es niemals anders werden würde. Dafür hasste er dieses Zimmer zu sehr, er hasste diese verdammte Dachschräge auf der einen Seite und auf der anderen diesen verdammten holzverkleideten Vorsprung, der aus irgendeinem Grund ins Zimmer ragte und diese Ecke unbenutzbar machte. Außer für den Traumfänger, den seine Mutter da aufgehangen hatte, „damit er endlich besser schlief". Natürlich hatte er nicht geholfen, im Gegenteil, er hatte irgendwann angefangen auch ihn zu hassen. Und dem Ganzen setzte der Ausblick aus dem Fenster die Krone auf: Wald, Wald, Wald soweit das Auge reichte. Zum Kotzen.
„Stehst du schon wieder hier im Flur?" Natürlich war er seine Mutter. Immer musste sie in solchen Moment, in denen er einfach nur allein sein wollte, auftauchen, als würde ihr jemand ein Zeichen geben. Wobei, wenn man sie fragen würde, dann würde sie sicher aus voller Überzeugung behaupten, dass es auch tatsächlich so war. Ihre Hände schlossen sich um seine Schultern und er biss die Zähne zusammen um nicht auszurasten. Dabei konnte er aber nicht verhindern, einmal tief aufzuseufzen.
Sie drückte seine Schultern. „Ach Clemmi, das wird schon. Du musst einfach das Alte gehen lassen und in deiner Seele Platz für das Neue machen. Du wirst sehen, dann fällt es dir auch ganz leicht, dass hier alles so toll zu finden, wie wir!"
Das war jetzt das vierte Mal, dass sie ihm diesen Vortrag gehalten hatte und drei Mal war es Clemens gelungen, ruhig zu bleiben, aber jetzt ging es einfach nicht mehr. Er befreite sich brüsk aus ihrer Umklammerung, drehte sich um und trat einen Schritt zurück ins Zimmer während er gleichzeitig versuchte, sich zusammenzureißen um nicht das zu tun, wonach ihm grade absolut der Sinn stand: hemmungslos loszubrüllen.
Es gelang ihm mit zitternder aber kontrollierter Stimme zu sagen: „Nenn mir eine Grund, wieso ich es hier toll finden soll! Weil ihr mich, ohne dass ich es wollte, von meinen Freunden weggerissen habt und aus der Schule, ein Jahr vor dem Abschluss um mich in diese völlig tote Einöde zu verschleppen?! Soll ich das toll finden?" Er streckte den Arm aus und wies anklagend auf das Fenster. „Soll ich diese tausend Bäume da vor dem Fenster toll finden? Oder die Fahrradfahrer, die einen auf der Straße fast totfahren? Oder dass es hier absolut gar nichts gibt, noch nicht einmal einen Supermarkt?!" Er konnte es jetzt doch nicht mehr verhindern, dass seine Stimme immer lauter geworden war und er wusste, dass er nach dem letzten Satz verloren hatte.
Seine Mutter hob beide Hände. „Gut Liebling, ich sehe du steckst voller Wut und das ist nicht gut. Du kennst doch die Atemübungen, die ich dir in so einem Fall empfohlen habe. Komm, wir machen sie zusammen."
Clemens hatte den Kampf gegen seine Wut inzwischen komplett verloren und nachdem er sie jetzt drei Tage versucht hatte, zu unterdrücken, genoss er es grade unglaublich, sie endlich rauszulassen. „Ich scheiß auf deine verdammten Atemübungen," schrie er und das schockierte Gesicht seiner Mutter, das ihm in diesem Moment ein unglaublich gutes Gefühl gab, war das letzte, was er sah, bevor er seine Zimmertür hinter sich zuschlug und den Schlüssel im Schloss umdrehte.
Und während seine Mutter gegen das Holz der Tür klopfte und seinen Namen und „Lass dir doch helfen, Liebling," sagte, hatte Clemens sich bereits eine Strickjacke gegriffen und das Fenster geöffnet. Er hatte schon am ersten Tag herausgefunden, dass er ohne Probleme dank der vielen Vorsprünge, die dieses komische verwinkelte Haus besaß, an der Fassade rauf- und runterklettern konnte, ohne, dass es von außen jemand mitbekam. Genau diesen Weg nahm er jetzt auch und er machte sich gar nicht die Mühe, den letzten Vorsprung auch noch mitzunehmen, sondern sprang das letzte Stück, überquerte den schmalen Weg dahinter mit einem großen Schritt und ging zwischen den Bäumen hindurch, die er grade noch mit Hassgefühlen bedacht hatte.
Wenn er sie mit zum großen Ganzen zusammenfasste, Umzug aus der Großstadt in dieses tote Kaff, dann hasste er sie. Wenn er sie aber als Einzelnes betrachtete, dann gefiel es ihm unglaublich gut, zwischen den Bäumen hindurch zu wandern und das Laub unter seinen Füßen knacken zu hören. Vorgestern hatte er sogar einen kleinen Bach entdeckt und auf einem Stein zu sitzen und ihm zuzusehen hatte etwas ziemlich Beruhigendes, was er jetzt definitiv brauchte. Das und keine völlig bescheuerten Atemübungen, die noch nie irgendetwas gebracht hatten, außer ihn nur noch wütender zu machen. Aber auf einem Stein zu sitzen dem Rauschen des Baches zuzuhören war etwas ganz anderes und heute konnte er sogar zwei Eichhörnchen dabei zusehen, die sich einen ziemlich dicken Baumstamm hochjagten.
Als sie in der Baumkrone verschwunden waren, streckte Clemens die Beine von sich, starrte aufs Wasser und seufzte einmal tief. Anstatt an einem Samstag im Wald zu hocken und auf einen Bach zu starren würde er jetzt mit den anderen Billard im Jugendzentrum spielen oder bei Jakob vor der Konsole hängen und abends würde dann bei irgendwem, dessen Eltern nicht zuhause waren, eine Party anstehen. Clemens war wirklich zufrieden mit seinem Leben gewesen – bis seine Eltern sich entschlossen hatte, ihn einfach da rauszureißen und in dieses furchtbare asymmetrische Zimmer mitten in der Einöde zu sperren.
Natürlich könnte er seine Freunde noch jedes Wochenende sehen, wenn er das wollte, er müsste dann ja nur drei Stunden hin und zurück mit dem Zug fahren und sein ganzes Taschengeld für den Monat für die Zugfahrkarten opfern. Natürlich würde er definitiv zurück nach Hause fahren, egal, was seine Eltern dazu sagen würde, nur eben nicht jedes Wochenende und trotzdem wäre es natürlich nicht das Gleiche. Er würde die anderen dann nicht am nächsten Montag in der Klasse wiedersehen, sondern er würde zurück in die Einöde fahren, wo er keinen Menschen kannte und er hatte ehrlich gesagt auch nicht wirklich vor, das zu ändern.
Die Leute in seinem Alter, die er gesehen hatte, als seine Eltern ihn dazu gezwungen hatten, sie und seine Schwester auf einem Rundgang durchs Dorf zu begleiten, hatten ihn angeglotzt, als wäre er ein Außerirdischer und auf solche Menschen hatte er absolut kein Bock. Und ihm graute es schon vor dem neuen Schuljahr wenn er in einer neuen Klasse klarkommen musste, die sicher voll von denen war.
Ein großer kalter Regentropfen der ihm mitten auf den Kopf klatschte, holte ihn aus seinen düsteren Gedanken zurück. Und dieser Tropfen bekam sehr schnell Gesellschaft als er aufstand und er fing an zu rennen, um nicht ganz so nass zu werden. Was aber nicht klappte, denn als er aus dem Wald wieder auf den Weg kam, fiel der Regen dicht wie ein Vorhang vom grauen Himmel und binnen Sekunden war er völlig durchnässt.
Den gleichen Weg zurück zu gehen kam jetzt natürlich nicht in Frage und weil Clemens seinen Haustürschlüssel vergessen hatte, musste er klingeln. Er rechnete damit, dass seine Mutter ihm öffnen würde und war sehr erleichtert, als es dann doch sein Vater war.
An dem Blick, mit dem er Clemens ansah, wusste der zwar sofort, dass das, was jetzt kommen würde, auch nicht besonders toll werden würde, aber es würde definitiv immer noch besser sein, als das, was ihn bei seiner Mutter erwartet hatte.
„Ich muss dir ja nicht sagen, dass wir uns ziemlich Sorgen um dich gemacht haben, nicht wahr?" meinte sein Vater vorwurfsvoll, während er dabei zusah, wie Clemens die Matte im Flur volltropfte.
„Nein, musst du nicht," erwiderte Clemens während er seinem ebenfalls vorwurfsvollem Blick erwiderte und versuchte, nicht genervt zu klingen.
Sein Vater nickte. „Gut. Dann geh dich mal abtrocknen und komm danach bitte ins Arbeitszimmer. Ich muss mit dir reden!"
„Mach ich," erwiderte Clemens und er rollte erst mit den Augen, als sein Vater ihm den Rücken zugedreht hatte.
Langsam stieg er danach die Treppe hoch. Selbstverständlich wusste er, was ihn erwartete, es war nicht das erste Mal, dass er so ein Gespräch mit seinem Vater führte und er wusste deswegen auch schon genau, wie er sich verhalten musste, um da schnell wieder rauszukommen. Trotzdem ließ er sich Zeit, sich trockene Sachen anzuziehen.
Das Arbeitszimmer befand sich unterm Dach und war genau so eingerichtet, wie in ihrem alten Haus und deswegen wusste Clemens auch sofort, wo er sich hinsetzen sollte.
„Das hat ja lange gedauert," empfing ihn sein Vater und Clemens murmelte etwas Unverständliches, während er sich auf den alten Hocker sinken ließ.
Sein Vater, der vor ihm in seinem Schreibtischstuhl saß, verschränkte die Hände im Schoß. „Ich muss ja eigentlich nichts mehr zu all dem sagen, oder?"
„Nein, musst du nicht," entgegnete Clemens und bemühte sich immer noch, seine Stimme völlig neutral klingen zu lassen.
„Und dass deine Mutter und ich nicht möchten, dass du uns gegenüber solche Kraftausdrücke wie vorhin benutzt, muss ich auch nicht mehr betonen, oder?"
„Nein, musst du nicht," wiederholte Clemens.
„Gut," sagte sein Vater und überraschte Clemens, der den üblichen halbstündigen Vortrag erwartet hatte, damit komplett. Es gelang ihm auch nicht, diese Überraschung vor seinem Vater zu verbergen und der grinste einmal schief. „Meinst du ich habe Lust, dir immer und immer wieder das Gleiche zu sagen? Du bist jetzt schließlich fünfzehn, so langsam denke ich, kann ich bei dir etwas gesunden Menschenverstand voraussetzen. Und außerdem hast du im Moment noch so etwas wie... Welpenschutz. Ich weiß ja, wie schwer der Umzug für dich gewesen ist. Und da es für mich so aussieht, als wärst du grade etwas sehr unausgelastet, was sicher der Hauptgrund ist, wieso du so mies drauf bist, habe ich mal ein wenig schlau gemacht. Es gibt einen Schwimmverein in der Stadt, die bieten einen Probetag an. Wie wärs? Wird zwar nicht wie früher sein, aber immerhin kommst du mal raus und machst etwas, was du liebst."
Das Erste, an das Clemens denken musste, war, von Leuten seines Alters beglotzt zu werden und er hörte es schon förmlich, wie hinter seinem Rücken über ihn getuschelt wurde. Aber er sah auch das Schwimmbecken vor seinem inneren Auge und wie er vom Startblock sprang und ins Wasser eintauchte und dann einfach nur schwamm und schwamm und es juckte ihm in den Fingern, das sofort umzusetzen. „Klingt gut," sagte er deswegen. „Wann soll dieser Tag denn sein?"
Sein Vater nahm ein Blatt Papier von seinem Schreibtisch und warf einen Blick drauf. „Nächsten Dienstag um drei Uhr. Soll ich dir helfen, nachzusehen, wie du hinkommst?"
„Nein danke," erwiderte Clemens fest. „Das kann ich auch alleine."
„Gut," sagte sein Vater wieder und die Miene, mit der er Clemens ansah, wurde wieder ernst. „Und jetzt möchte ich, dass du zu deiner Mutter gehst und dich bei ihr entschuldigst."
Jetzt war immerhin etwas eingetreten, mit dem Clemens die ganze Zeit gerechnet hatte. „Mach ich," sagte er und erhob sich schwerfällig vom Hocker.
Er fand seine Mutter im Wohnzimmer, wo sie vor der großen Fensterfront zum Garten hin im Lotussitz saß und vermutlich mal wieder eine von ihren Meditationsübungen machte. Clemens wusste, dass sie eigentlich wollte, dass man sie währenddessen nicht ansprach, aber er hatte auch absolut keine Lust jetzt wirklich nicht hier sitzen bis sie endlich fertig wurde.
Er räusperte sich deswegen einmal laut und sagte „Mama" und wartete ungeduldig, bis sie sich wieder gesammelt hatte und sich zu ihm umdrehte. Sie öffnete den Mund, aber Clemens war schneller. „Es tut mir Leid, dass ich vorhin dir gegenüber ein Wort benutzt habe, das ich nicht hätte benutzen sollen," leierte er den üblichen Text herunter. „Ich weiß, ich vergifte die Atmosphäre damit und ich werde hart an mir arbeiten, dass es nicht noch einmal passiert!"
„Und denk auch an Marcia, ich möchte nicht, dass sie in ihrem Alter schon mit solchen Worten konfrontiert wird," fügte seine Mutter hinzu und Clemens nickte nur wortlos. Natürlich würde er seiner Mutter niemals sagen, dass er Marcia schon mit fünf das erste Mal dabei erwischt hatte, wie sie ,Scheiße' gesagt hatte. Er hatte ihr damals gesagt, dass es für sie das Beste wäre, dieses Wort nie in Gegenwart von ihrer Mutter zu sagen und sie hatte sich seitdem daran gehalten.
Als sie beim Abendessen dann alle zusammen saßen, sah Clemens seine kleine Schwester das erste Mal an diesem Tag und er konnte nicht umhin, sie zu beneiden. Sie war am ersten Tag einfach nach draußen gegangen, hatte irgendwo ein paar spielende Kinder gesehen und sich einfach dazu gesellt und schon hatte sie ein paar Freunde gefunden, mit denen sie heute auch den ganzen Tag unterwegs gewesen war.
Clemens seufzte einmal lautlos und wünschte sich für einen Moment, auch wieder acht Jahre alt zu sein und so ein einfaches Leben zu haben, in dem man sich um nichts Gedanken machen musste.
Denn er konnte nicht verhindern, den Rest des Tages über den Probetag nachzudenken und wie die Leute da so drauf sein könnten. Und, ohne es vor sich selbst zuzugeben, hoffte er auch, dass es vielleicht nicht so ein Geglotze und Getuschel geben würde, wie er es sich vorstellte, sondern, dass da auch ein paar Korrekte dabei waren, mit denen er sich vielleicht anfreunden konnte.
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Eine längere Geschichte
RomanceNeue Haus, neue Schule, neuer Schwimmverein... Clemens hatte schon erwartet, dass es nicht einfach werden würde. Aber mit Timo hatte er nicht gerechnet. - langsames Erzähltempo