Was glaubt er, wer er ist?

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Mein Blick schweift durch Nathans Zimmer. Es spiegelt eins zu eins den Chaoten wider, der sich grade konzentriert über meine Songs her macht. Kleidung liegt auf dem Boden, Papiere liegen kreuz und quer auf seinem Schreibtisch verteilt. Bei dieser Unordnung könnte ich auch nichts Vernünftiges aufs Papier bringen.
Nervös wickel ich mir einen losen Faden des alten braunen Sofas um den Zeigefinger.
Warum ich so nervös bin, weiß ich selber nicht. Wenn ihm nicht gefällt, was er da liest, ist es ja nicht mein Problem.
Möglichst unauffällig schiele ich zu ihm.
In zerrissenen Jeans und einem engen schwarzen Shirt sitzt er auf dem Boden, der definitiv mal wieder einen Staubsauger sehen könnte, und breitet mein ganzes Leben vor sich aus. Aus einer nervigen Angewohnheit heraus spielt er mit seiner Zunge an dem Ring, der mittig seine Unterlippe ziert.
Sein halblanges braunes Haar fällt ihm Strähnen weise ins Gesicht und verdeckt seine dunklen Augen.

„Starr mich nicht so an April."
„Tu ich gar nicht", entgegne ich ihm prompt und richte meinen Blick in Richtung Fenster.
„Ist das eigentlich alles?"

Bitte?

„Das sind über hundert Songs. Wie viele brauchst du denn?"
„Hast du dir je unsere Musik angehört? Das alles hier taugt nichts", antwortet er und wirft einige meiner Papiere in die Kiste zurück.
Genervt rutsche ich von dem Sofa.
Wenn Macho-Nathan meint, dass er mit all dem nichts anfangen kann, bitte, aber dann kann ich auch gehen.
Während ich meine Texte wieder einsammele, grummel ich unverständliches Zeug vor mich hin.

Den Weg hätte ich mir wirklich sparen können.

„Was denn, ist Bambi etwa sauer?"
„Schnauze!"
Nathan scheint meine Reaktion zu amüsieren. Herzliche lachend steht er auf und lehnt sich lässig gegen die Tür.

„Weißt du, was ich glaube?"
„WAS?", schnauze ich ihn direkt an und stehe auf. Ich stelle meine Kiste auf sein Sofa und schnappe mir meine Jacke.
„Du brauchst Inspiration."
Ehe ich überhaupt darüber nachdenken kann, was er meinen könnte, greift er nach meiner Hand und zieht mich zu sich.

Ähm, stopp. Was passiert hier grade?

Mit leicht geöffnetem Mund starre ich ihn an. Ich sollte etwas sagen. Ganz sicher sogar, aber mein Hirn bekommt keinen brauchbaren Satz zusammen.
Stattdessen fällt mein Blick auf seine Lippen. Mein Herz schlägt mir bis zum Hals.

„Nathan was ..."

Zu mehr komme ich nicht.
Er vergräbt seine rechte Hand in meinen rotbraunen Haaren und pappt seinen Mund fest auf meinen. Überfordert mit dieser Situation, bin ich im ersten Augenblick wie erstarrt.
Bewege mich keinen Zentimeter.
Als seine Zunge die Barriere meiner Lippen durchstößt, scheint er in meinem Kopf einen Kurzschluss auszulösen.

Meine Zunge kommt seiner entgegen und beginnt mit ihr zu spielen.
Sie stupsen sich an, umschlingen sich.
Eine unbeschreibliche Hitze steigt in mir auf.

Erst als Nathan sich an meiner Jeans zu schaffen machen will, wird mir bewusst, was hier grade passiert.
Ich löse mich von ihm und weiche einige Schritte zurück.

„Was soll den das?", fauche ich ihn an.
„Ach komm schon Bambi. Was ist denn schon dabei?"
Nathans widerlich, amüsiertes Grinsen lässt mich innerlich kochen.

Was glaubt er eigentlich, wer er ist?

„Ich bin hier, um dir bei deiner musikalischen Krise zu helfen, und nicht damit du Druck ablassen kannst!"
,,Sicher? Da hab ich aber ganze andere Sachen gehört."

Empört über die Andeutung, die er grade gemacht hat, hebe ich meine Hand und verpasse ihm eine Ohrfeige.
Bevor Nathan noch etwas Dummes sagen kann, schnappe ich mir meine Sachen und verlasse fluchtartig sein Zimmer.

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