für immer

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Er musste nicht lange nach ihr suchen, hier an ihrem gemeinsamen Lieblingsort konnte er sie fühlen, ihre Präsenz spüren, bevor er sie mit seinen Sinnen wahrnahm. Langsam näherte er sich ihr mit ausgestreckten Händen. Sie ergriff sie und er zog sie zu sich in eine feste Umarmung. Sie schlang ihre Arme um seinen Hals. Es würde das letzte Mal sein, dass sie sich sahen, sich berührten. Diesen Moment wollte sie nicht vergessen. Nur ein kleines bisschen Glück empfinden zu dürfen, nur ein ganz kleines bisschen Frieden. Sie schloss die Augen und atmete tief ein. Er roch nach Sonne, Freiheit und dem Gefühl, für immer zusammen bleiben zu können, auch wenn sie beide wussten, dass es unmöglich war. Fest legte er seine Arme um ihren Rücken und drückte sie so fest gegen sich, als wolle er mit ihr verschmelzen. So standen sie da. Brust an Brust. Herz an Herz. Spürten die Wärme und den Atem. Eng umschlungen. Es fühlte sich an, als würde die Zeit still stehen und trotzdem löste er sich viel zu bald wieder von ihr. Er rückte ein wenig von ihr ab und lehnte seine Stirn an ihre. Sie öffnete ihre Augen und blickte ihm tief in seine. Es schien, als würde sie in ihnen ertrinken, als würde sie fallen, schnell und ohne Boden, ohne Sicherheit.

Er spürte ihre Hand an seiner Wange, wie sie federleicht seine Tränen wegwischte. Er hatte gar nicht mitbekommen, dass er angefangen hatte zu weinen. Auch ihre Augen fingen an zu glänzen. Es war, als bildete sich in ihnen ein See, so klar, dass er bis auf den Grund schauen konnte. Er sah so viel in ihnen. Sehnsucht, Angst, Vertrauen. Aber vor allem ihre Seele. Langsam begann er sich mit ihr im Takt einer Musik zu wiegen, die nur sie hören konnten. Er ließ seine Hände ein wenig tiefer gleiten und umfasste ihr Taille. Sie legte ihren Kopf auf seine Brust und er seinen auf ihren. Langsam drehten sich im Kreis. Es fühlte sich an, als wären sie die einzigen Menschen auf dieser Erde. Die einzigen Seelen hier und überall. Als würde sich alles um sie drehen oder sie sich um alles. Als würden sie für immer leben, für immer zusammen bleiben. Sie tanzten zusammen, als würden sie sich schon immer kennen und lieben. Als wären sie eins. Zwei Seelen, verschmolzen zu etwas, das viel größer war. Sie drehte sich von ihm weg, ihre Hände ließen sich nicht los. Als sie sich zurück drehte, hob er sie hoch. Es war ein Tanz voller verzweifelter Leidenschaft und dem Wissen nicht genug Zeit zu haben.

Langsam senkte er sie wieder ab und umschlang ihren Körper. Nie hatte sie sich träumen lassen, ihn zu finden und dann so schnell wieder zu verlieren. Könnten sie nur die Zeit anhalten oder in ein anderes Bewusstsein fliehen. Nur weg. Irgendwohin, wo sie zusammen sein könnten. Irgendwohin, wo nichts sie trennen konnte. Irgendwohin, wo ihre reine Existenz genug war. Wo sie nur zusammen sein musste, um zu leben. Sie drückten sich aneinander und dennoch waren sie sich nicht nahe genug. Ihre Körper hielten sie auf. Physisches hielt sie davon ab, eins zu werden, davon ab, sich zu verbinden. Sich auf immer zu vereinen. Es war, als wäre diese Welt gegen sie. Als würde alles versuchen sie zu trennen, sie gar nicht erst zusammenkommen zu lassen. Sie liebten sich, gehörten zusammen und dennoch war es ihnen missgönnt, beisammen zu sein. Aber nicht heute, nicht jetzt. Dieser Moment gehörte nur ihnen, niemand würde ihnen das nehmen können, nicht diesen kleinen Moment vollkommenen Glücks.

In ihr fing es an zu kribbeln, als würde ihre Seele versuchen nach außen durchzubrechen. Sich zu befreien und mit seiner diese Welt zu verlassen. Auch seine Seele verspürte den Drang seinen Körper zu verlassen, sich von allem Ballast zu entsagen und nur noch zu fliegen. Sich loszulösen von allen weltlichen Belangen und nur noch zusammen zu sein. Nur zusammen mit ihr, alles andere wäre nebensächlich. Es war, als würden sie sich verbinden, als würden sie für immer zueinander finden, als könne nichts sie trennen. Heute nicht, morgen nicht und niemals, solange sie lebten, solange sie existierten. Ganz allein waren sie hier und ganz allein würden sie für immer sein, wenn sie sich verabschieden mussten. Doch jetzt hatten sie sich noch. Ihre Seelen stiegen hoch Richtung Himmel und umkreisten sich, spielten und tanzten, kamen sich näher und entfernten sich wieder ein wenig, jedoch ohne einander loszulassen. Sie sahen, wie ihr Leben hätte sein können. Mit allen Höhen und Tiefen, mit allen Anfängen und Abschieden, mit allen Problemen und mit allen Lösungen. Mit allen Ängsten, Ideen und Bedenken. Mit all der Hoffnung, der Wut, den Sorgen und den einfachen Freuden. All das würde ihnen genommen werden. Sie tanzten mit einer zornigen Energie. Sie legten all die Gefühle hinein, die in ihnen brodelten. All die Verzweiflung und all den Schmerz. All die Traurigkeit, die sie empfanden bei dem Gedanken an all die verlorenen Momente. So unglaublich viele Emotionen, die auf sie einprasselten und in ihnen herumwirbelten. Sie verletzten und ihnen falsche Hoffnungen gaben, sie aufbauten und dann gleich wieder fallen ließen. Es war ein Gefühlschaos, das sie nicht sortieren konnten, auch nicht wollten. Sie konnten es nur spüren.

Es war unfair. Es war ungerecht und unglaublich willkürlich.

Oh, könnten sie der Welt nur für immer entfliehen. Alles, was ihnen im Wege stand, wäre unbedeutend und klein und dunkel im Gegensatz zu ihnen. Sie leuchteten von innen heraus und alles andere versank in Schatten. Ganz langsam zuerst fingen sie an, sich um ihre eigene Achse zu drehen, dann wirbelten sie immer schneller und immer schneller umeinander. Die Welt um sie herum stand still und das einzige, was noch zählte war dieser kleine Augenblick. Diese letzten Sekunden ihres Zusammenseins, welches hätte viel länger sein sollen, hätte sein müssen. Sie wurden wieder langsamer, ruhiger und blieben letztlich ganz stehen. Immer noch eng aneinander gepresst.

Ihre Seelen schluchzten, wollten sich nicht trennen, nicht loslassen. Sie schrieen und wehklagten vor Leid, Verlangen und unendlicher Trauer.

Langsam wurden sie leiser und verstummten schließlich ganz. Zogen sich zurück.

Ein letztes Mal blickten sie sich tief in die Augen und lösten langsam ihre Hände voneinander.

Für immer.

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