Kai's Pov
"Kaaaaai! Essen ist fertig!", schallt die helle Stimme meiner Mutter durch die hölzernen Wände zu mir nach oben. Widerwillig öffne ich die Augen und blinzele in das tiefrot-orangene Licht der untergehenden Sonne, die hinter den sanften, gelbgrünen Hügeln am Horizont langsam versinkt. Ich schließe noch einmal die Augen, genieße den warmen Schein auf meinem Gesicht und die angenehme Ruhe, die sich in mir ausbreitet.
Dann schaue ich noch einmal sehnsüchtig auf das leuchtende Display meines Handys neben mir. Immer noch keine neue Nachricht. Ermattet lehne ich den Kopf gegen die Wand. Wieso guckt der denn nicht mal auf sein Handy? Trainiert der wirklich immer noch? Bei dem Gedanken an Julian in seinen enganliegenden Sportsachen muss ich instinktiv lächeln. Doch gleichzeitig hinterlässt der Gedanke auch einen schmerzhaften Stich, irgendwo ganz tief in mir. Ich schlucke und blinzele erneut ins immer schwächer werdene Sonnenlicht.
Eigentlich wären wir zusammen ins Trainingslager gefahren. Das war jedenfalls immer der Plan. Und in den nächsten Jahren dann ins internationale Camp mit den ganzen Profis. Das war schon immer mein Traum. Die ganzen letzten Monate vor den Ferien hatten Julian und ich uns gemeinsam aufs Trainingslager gefreut. Zwei Wochen trainieren, jeden Tag, totaler Fokus, keine Ablenkung, keine nervige Schule, keine Familie, nur wir beide und der Fußballplatz. Und dann, kurz bevor es losgehen sollte, hat mein Vater mich angerufen. Das Trainingslager sei viel zu teuer und sowieso total unnötig. Ich solle endlich etwas richtiges machen. Und das obwohl ich das ganze Schuljahr nebenbei gejobbt habe und sogar Team Kapitän war. Das war die Abmachung, damit ich im nächsten Jahr die große Chance für einen Profivertrag bekommen kann. Und trotzdem wollte er mir diese versprochenen restlichen 100 Euro einfach nicht geben. Die Stimmung Zuhause war dementsprechend unterirdisch die letzten Wochen und eigentlich habe ich fast die gesamte Zeit hier oben oder im anliegenden Wald verbracht, in dem ich verzweifelt versucht habe, wenigstens einem Teil meines Trainingsplans nachzugehen.
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"Keine Zankerei
beim Essen!" ermahnt meine Mutter
meine beiden kleinen Cousinen und stellt einen großen dampfenden Messingtopf zwischen die beiden auf den Tisch.
Als sie mich im Türrahmen entdeckt,
wirft sie mir nur einen kurzen Blick
zu und rauscht dann eilig zurück in
die Küche.
"Jan, Lea! Das Essen wird
kalt! Und bringt euren Vater mit", ruft
sie dann aus dem Küchenfenster,
bevor sie es mit einem Krachen
wieder zuzieht.
Seufzend lasse ich mich auf dem
freien Platz neben Hanna fallen, die
sich mittlerweile einen wilden
Löffelkampf mit Sarah liefert.
"Hey! Was hab ich gerade gesagt?
Lasst den Blödsinn!" schimpft meine
Mutter als sie mit einem großen
Brotkorb aus der Küche
zurückkommt.Auch mir wirft sie
einen ermahnenden Blick zu, auf den
ich allerdings nur mit einem
unbeteiligten Schulterzucken
antworte.
Es vergehen bestimmt fünf weitere
Minuten, in denen meine Mutter die
beiden Streithähne wiederholt zur
Ordnung ruft, bis meine beiden
älteren Geschwister mit meinem
Vater im Schlepptau durch die
Terassentür ins Wohnzimmer
platzen.
"Entschuldige, Mutti! Bei der Hitze
dauert echt alles doppelt so lange!"
erklärt sich mein ältester Bruder
Jan und streift sich mit
hochrotem Kopf sein schmutziges
Arbeitshemd ab.
"Schon gut, aber jetzt setzt euch
bitte!"Nachdem sich nun endlich auch der
Rest der Familie am Tisch
versammelt hat und meine Mutter
auf jeden Teller eine große Kelle
Bauerntopf gefüllt hat, breitet sich
zunächst ein hungriges Schweigen
aus.
"Der Vergaser ist übrigens schon
wieder kaputt", merkt Jan nach
einer Weile an und schaut vorsichtig
zu Vater, dessen Stirn sich
augenblicklich in Sorgenfalten legt."Schon wieder?"
fragt meine Mutter fassungslos und
lässt ihren Löffel in den Teller sinken.
"Der war doch noch so gut wie neu"
murmelt Lea, meine 2 Jahre ältere Schwester neben mir und vergräbt
verzweifelt das Gesicht in den
Händen.
Ich betrachte die besorgten
Gesichter um mich herum
teilnahmslos, bemühe mich
möglichst lautlos den Löffel wieder
in den däftigen Eintopf voll
Kartoffeln, Paprika und Möhren zu
tauchen und dann unauffällig in den
Mund zu schieben.
"Kannst du den nicht reparieren,
Jan?", fragt Sarah neben mir mit
großen Augen.
Lea legt ihr mitfühlend die Hand
auf die Schulter.