Lügen

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Lügen

"Es geht mir gut." Eine Lüge.

Sie sah ihn das erste Mal an einem regnerischen Dienstag. Er war nur wenige Monate älter als sie und schien trotz allem so viel erwachsener. Er stand einfach nur da, die schwarzen Haare wirkten durch den Regen noch dunkler. Sie beobachtete ihn aus der Nähe, doch er sah sie nicht. Sein Blick war starr zum Himmel gerichtet und sie hatte das Gefühl, dass die Wolken nur für ihn weinten.

"Ich habe ihn vergessen." Eine Lüge.

Sie trafen sich. Am selben Ort, an einem anderen Tag. Die Sonne strahlte in jeden verborgenen Winkel der Stadt. Sie begrüßten sich und sie war aufgeregt. So aufgeregt, dass sie fast kein Wort sagte. Als sie schließlich nach Hause kam, dachte sie, dass er so unerreichbar wie die Sonne war.

"Ich verstehe ihn." Eine Lüge.

Es war April und seine Launen schlugen um wie das Wetter. Ein Regenbogen war am Himmel zu sehen. Er war in Gedanken versunken und schien so traurig und verloren. Sie wollte ihm helfen. Doch anstatt ihn zusammenzufügen, zersplitterte sie sich selbst. An diesem Tag verstand sie, dass er so viele Facetten hatte und nicht ohne den Regen; nicht ohne die Tränen, leben konnte.

"Es war nicht seine Schuld." Sie glaubte es wirklich.

Es war Nacht und der Mond schien auf den schwarzwirkenden See, der keine Regung zeigte. Mit einem dumpfen Geräusch zerbarst die glatte Fläche. Sekunden vergingen, Minuten vergingen. Der See war wieder ruhig. Ein Schrei zerriss die Luft. Ihr Schrei. Sie stand auf der Brücke und starrte zum Mond, ihre Wangen glänzten feucht. Dasselbe dumpfe Geräusch erklang. Auf der Brücke war niemand zu sehen.

"Ich verzeihe ihm." Sie versuchte wirklich, daran zu glauben.

Sie verwandelte sich in ein Abbild von ihm. Ein Abbild von ihm und ein Schatten ihrer selbst. Auf seiner Beerdigung trug sie ein langärmeliges Kleid. Niemand bemerkte es, doch der traurige Ausdruck auf ihrem Gesicht, sprach Bände.

"Ich brauche keine Hilfe!" Sicher?

An einem warmen Julitag war sie unvorsichtig. Das schwarze Top klebte an ihr wie die Trauer um ihn. Sie stand vor seinem Grab und ihr war nach Weinen zumute, doch sie war leer. Jemand sagte ihren Namen. Sie drehte sich nicht um, starrte weiter auf den Grabstein. Vor ihren Augen flackerte das Bild und sein Name verschwand. Der ihre stand nun dort, doch das Todesdatum veränderte sich nicht.

"Ich weiß es nicht." Eine Lüge.

Sie wachte in einem Krankenhausbett auf, angeschlossen an medizinische Geräte, ihre Unterarme verbunden. Ein Arzt kam herein und befragte sie. Sie log, der Arzt verschwand und sie war alleine. Ich will bei dir sein, dachte sie und schlief wieder ein. Ihre Träume waren voller Angst, Selbsthass und Wahrheit.

"Ich hätte ihn aufhalten können." Sie verzweifelte an dieser Lüge.

Sie schwieg. Sie war nicht krank, sie brauchte keinen Therapeuten. Dieser schwieg ebenfalls, aber brachte sie dennoch auf eine Art dazu, ihre Vergangenheit zu überdenken. Krank, flüsterte sie. Krank vor Liebe.

„Er hat mich zerstört." Das hatte er.

Jedes Mal, wenn sie sich verabschiedet hatten nahm er einen Teil ihrer Seele und versuchte seine damit verschmelzen zu lassen. Er nahm es in Kauf, ihr Leben schlimmer werden zu lassen als seins, nur damit er wieder frei war. Frei von den Stimmen und frei von Medikamenten. Frei von Hass.

„Er war nicht echt." Es tat so weh, die Wahrheit einzulassen.

Die Wahrheit, vor der sie sich hatte verstecken wollen erfasste sie mit einem Mal. Er hatte sie verwandelt. In eine leere Hülle ohne Gefühle. Sie lebte ein Leben, das nicht lebenswert war. Sie lebte sein Leben, voller Medikamente und Taubheit.

„Ich brauche das nicht." Die gleichen Worte.

Auch er hatte die Antidepressiva bekommen, sich gewehrt und verloren. Ihr waren die kleinen Kapseln nie aufgefallen, die er immer bei sich trug. Sie wusste nicht, ob er sie genommen hatte. Sie nahm sie. Ihre Taubheit mit Gefühlen zu überdecken, ihre Gedanken zu verbannen- das wollte sie mehr als alles andere.

„Sie helfen." Das taten sie wirklich.

Allerdings wurden ihre Gedanken wieder dominanter und die Stille schrie sie an. Sie nahm immer mehr dieser Pillen, die ihr Leben hätten schöner machen sollen. Sie hatte nachts wieder die Albträume und es fühlte sich an, als würde sie ein zweites Mal ertrinken, doch dieses Mal wurde sie nicht gerettet. Und immer, wenn sie mitten in der Nacht aufwachte fühlte sie das drückende Wasser, das ihre Lungen flutete und sie dem Nirwana näher brachte.

„Ich glaube, ich habe ihn gar nicht wirklich gekannt." Und sie hatte Recht.

Denn hätte sie ihn wirklich gekannt, wüsste sie, wo er jeden Donnerstag gewesen war. Sie wüsste von den wöchentlichen Besuchen bei dem Mann, der seine Seelensplitter hätte zusammenfügen müssen. Sie hätte von seinen Problemen gewusst und warum er sie nie mit zu sich nach Hause nahm. Sie wusste nichts davon, dass es nicht das erste Mal war, dass der nachtschwarze See ihn verschluckte. Aber es war das letzte Mal, dass er den See nicht atmend verließ.

Doch all das wusste sie nicht und würde es auch nie wissen.

Sie saß am Ufer des dunklen Sees und holte die gesammelten Schlaftabletten hervor. Sie hatte die Albträume in Kauf genommen, um jetzt ewig schlafen zu können. Ihre Hände zitterten nicht, als sie die einzelnen Tabletten herausholte und vor sich auf den steinigen Boden legte. Eine nach der anderen glitt ihre trockene Kehle hinunter. Irgendwann wurden ihr die Lider schwer und sie lief langsam in das kalte Wasser und ließ sich treiben. Es war anders, als sie gedacht hatte. Nicht friedlich, sondern schmerzvoll. Ihr Bauch verkrampfte sich und ihre Muskeln zogen sich zusammen. Sie wurde von ihrem eigenen Gewicht nach unten gezogen und ihr letzter Gedanke war, dass sie es gar nicht wollte. Sie hätte glücklich seien können, wenn er sie nicht zerstört hätte. Sie hätte lieben können, wenn er nicht den Hass in ihre Welt gebracht hätte.

Sie hätte leben können.


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