Zug zurück

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Gestresst irre Maria am Bahnhof herum. In wenigen Minuten geht ihr Anschlusszug, den sie unbedingt erwischen muss, um noch rechtzeitig nach Hause zu kommen. Sie klapperte die zahlreichen Bahnsteige ab, doch keiner passte mit dem Zug überein, den Maria doch so dringend brauchte. Die Frau warf einen Blick auf die große Bahnhofsuhr. 2 Minuten noch. Die Anspannung war groß, verpasst Maria den Zug, so würde das für sie bedeuten, dass sie eine ganze Weile hier festsitzen wird. Doch was sollte sie nur tun? Ihr läuft die Zeit davon. Sie muss handeln. Plötzlich reist ein anfahrender Zug Maria aus ihrem Gedankenkarussel. Die Frau blickte verwundert auf und musterte den Zug, der nirgendswo angekündigt wurde und auch auf keinem Zeitplan verzeichnet war. Sie seufzte. Auch dieser Zug war nicht der Richtige. Er war ihre letzte Hoffnung nach Hause zu kommen. Nach einem kurzen Aufenthalt klingelte der Zug, er war bereit zum Losfahren. Da bemerkte die alte Frau zum Ersten Mal den Namen des Zuges: Lifejet 97 und auf einmal tat sich etwas in Maria. Sie wusste zwar, dass dies nicht der richtige Zug ist, in den sie eigentlich einsteigen sollte, dennoch tat sie es. Irgendetwas in ihr sagte der Frau, es sei das Richtige.

Im letzten Moment drückte Maria den Knopf, die alten Schiebetüren öffneten sich und die Frau befand sich im Zug – im Lifejet 97. Sie atmete tief durch und probierte sich einen Überblick zu verschaffen. Sie suchte nach Monitoren, die ihr sagen könnten, wohin die Reise geht, doch vergeblich. Egal wie weit sie sich durch die engen Sitzreihen vorkämpfte, es gab keine. Maria versuchte sich einzureden, der Zug sei zu alt für Monitore, jedoch waren weit und breit auch keine Passagiere zu sehen. Genauso wenig wie ein Schaffner, ein Lokführer oder anderes Personal. Komisch. So langsam fühlte sich Maria etwas unwohl. Dies alles kam ihr äußerst seltsam vor, doch jetzt war es sowieso zu spät. Sie befand sich in einem fahrenden Zug, auf dem Weg nach irgendwo – allein, planlos, unglücklich. Es war eine Fahrt ins Ungewisse.

Maria ließ sich auf einen der vielen Sitze fallen, schaute aus dem Fenster in die Unbekannte Gegend, die an ihr vorbeizog und wartete ab. Sie passierte die verschiedensten Orte. Regionen die unterschiedlicher nicht sein hätten können. Man wusste nie einen als nächstes erwartet, es hätte alles sein können. Nach wunderschönen Landschaften, Seen, Wäldern konnten genauso gut abgebrannte Dörfer, verlassene Bauten und dunkle, unangenehme Passagen folgen. Der Zug aber blieb nirgends stehen, es schien so, als würde er bis in die Unendlichkeit weiterfahren. Die Zeit hier drinnen fühlte sich anders an. Ein Blick auf die Uhr verriet Maria, dass sie nun schon einige Stunden mit dem Zug unterwegs war. Diese aber fühlten sich gerade einmal wie 30, maximal 40 Minuten an. Das sollte aber nicht das merkwürdigste bleiben.

Als Maria nach ihrer Wasserflasche griff, um ihren Durst zu stillen, erschrak sie als sie ihren Arm sah. Wie kann das nur sein? Kann das sein? Die Frau stand auf und eilte auf die Zugtoilette. Sie öffnete die Tür und erstarrte. Maria wusste nicht was sie sagen soll, denn sie sah eine Frau, mindestens 10 Jahre jünger als sie es war. Sie hatte weniger Falten und sah frischer und fröhlicher aus. Was Maria sah, war ihr eigenes Spiegelbild. Wie geht sowas?! Völlig verwundert blieb die Frau noch eine Weile vor ihrem eigenen Abbild stehen und konnte mit ansehen, wie sie mit jedem gefahrenem Kilometer jünger und jünger wurde. Sie beobachtete wie ihre Haut straffer wurde und ihre Haare länger und heller und plötzlich sah sie eine junge Frau vor sich im Spiegel stehen, die ganz anders aussah als Maria, aber doch gleich. Ein Lächeln huschte über ihr Gesicht. Sie erinnerte sich an die Zeit – an dieses Alter. Zu diesem Lebensabschnitt muss Maria gerade mit dem Studieren fertig geworden sein, es war eine aufregende, aber auch lehrreiche Zeit in ihrem Leben. Gerne wäre sie noch etwas länger in diesem Alter verblieben, doch der Spiegel vor ihr machte keinen Halt und holte die Frau immer weiter und weiter in die Vergangenheit zurück. Mittlerweile war sie schon fast wieder ein Kind. Klein, jung, unerfahren. Sie angezogen von dem was sie im Spiegel sah, es gefiel ihr, doch auf einmal ruckelte es im Zug und Maria stolperte aus der Zugtoilette. Die Frau bemerkte verwundert, dass der Zug zum Stehen gekommen ist. Das erste Mal seit vielen, vielen Stunden wohlgemerkt. Noch immer war sie allein und noch immer wusste sie nicht, wo sie ist. Maria war unsicher was sie nun tun sollte, immerhin hatte sie keinen Plan, wo sie sich befand, genauso wenig aber wusste sie, wo der Zug sie noch hinbringen würde, außerdem wusste die Frau, je länger sie im Zug bleibt, desto jünger wird sie werden, was der Mission nach Hause zu kommen nicht unbedingt eine Hilfe sein würde. Kurzerhand also beschloss sie auszustiegen und sich umzusehen.

Maria fing an, dem Weg direkt neben des Bahngleises zu folgen. Bis auf die Bahnstation und dem abfahrenden Zug gab es hier nicht viel. Vereinzelt sah sie ein paar Rehe und Häuser, die sich in Wäldern, fernab von belebten Gebieten versteckten. Maria folgte weiterhin dem Weg. An welchen Ort hat mich dieser komische Zug nur hingebracht? Je länger Maria dem Weg folgte, desto bekannter kam ihr die Landschaft um sie herum vor und plötzlich entdeckte sie auch seit langem das erste Mal wieder Menschen. Es waren zwei spielende Kinder, ein Junge und ein Mädchen. Maria beobachtete die zwei gespannt, sie konnte ihren Blick kaum abwenden. Die zwei kamen ihr so bekannt und vertraut vor, genauso wie das Haus, vor dem sie spielten. Es war fast so, als ob Maria die Kinder kannte, oder zumindest schon einmal gesehen hat. Sie spürte eine große Verbindung zu dem Mädchen und konnte ihre Emotionen hautnah nachvollziehen und miterleben. Sie spürte ihre Freude im ganzen Körper, die sie beim Spielen verspürte und teilte ihr Leid und ihren Schmerz als sie stolperte. Es wurde warm in Maria, es fühlte sich gut, aber auch seltsam an, denn sie wusste nicht, woher das kommt und was das alles hier soll.

Plötzlich öffnete sich die alter Holztür des Hauses und als eine ältere Frau hervortrat, um nach den Kindern zu sehen, wurde Maria ganz anders, denn auf einmal, wie aus dem Nichts, wurde ihr so einiges klar. Das kleine spielende Mädchen, das war sie, es war Maria! Der Andere war ihr Nachbarsjunge Max, der früher immer zum Spielen vorbeikam, bevor sie erwachsen wurden und den Kontakt allmählich verloren. Und die Frau? Die Frau war Marias Mutter, die die schon seit einigen Jahren verstorben ist. Eine Träne kullerte über ihr Gesicht. Es tat gut sie wieder zu sehen, doch es schmerzte auch. Maria wollte ihre Mutter umarmen – ein letztes Mal, denn nach ihrem Tod hat sie sich so sehr gewünscht, ihre Mutter noch einmal in den Arm nehmen zu können. Jedoch wurde schnell klar, dass daraus nichts wird. Anscheinend ist Maria nur zum Beobachten und Fühlen hier, denn sie ist unsichtbar für ihr jüngeres Ich und ihre Familie. Als die Frau bemerkte, dass die Mutter, also ihre Mutter und das kleine Mädchen, also besser gesagt sie, in das Haus gingen, folgte sie der kleinen Maria in ihr alter Elternhaus, indem sie aufgewachsen ist und seit langer, langer Zeit stand sie wieder in ihrem Kinderzimmer. Sie war wieder da, wo sie so viele schöne, schreckliche, aber auch wichtige Momente und Erfahrungen hatte, da wo sie ihre Kindheit, nach der sie sich so sehr sehnte, verbracht hat, da wo sie jeden Morgen aufgewacht ist. Es war ihr Zimmer ohne Zeit. So nannte sie es damals immer. Hier gab es keine Uhren, keine Geräte, die ihr zeigen hätten können wie spät es ist, kein Ticken, kein Ziffernblatt, nichts. Hier war sie frei. Im Zimmer ohne Zeit. Es war klein, doch die Gedanken flogen darin unendlich weit. Maria erinnerte sich zurück. Während draußen die Tage wie in Lichtgeschwindigkeit verstrichen, hatte sie im Zimmer ohne Zeit, wenigstens noch ein kleines bisschen Sicherheit, die bleibt. In Maria schossen tausende an Erinnerungen hoch und jeder Winkel setzte neue frei. Ach, wie sehr sie die Zeit vermisste. Damals war sie noch nicht bereit dafür, die Verbindung reißen zu lassen, doch mit der Zeit geriet das Zimmer ohne Zeit immer mehr in Vergessenheit, genauso wie ihre Kindheit, ihre Erinnerungen und ihr Lachen.

Doch noch einmal wollte sie das nicht durchmachen. Nein, sie wollte hierbleiben. Hier fühlt sie sich wohl, alles war so viel besser und sie war glücklich, das wollte sie nicht verlieren. In der Ferne jedoch hörte Maria bereits das Rauschen des anfahrenden Zuges. Maria erschrak. Der Zug! Die Realität! Sie soll wieder zurück! Die Frau aber, fest entschlossen hier zu bleiben, fing an zu laufen. Schnell, so schnell sie nur konnte. Plötzlich spürte sie Atemzüge von hinten, verlor den Halt und wusste, jetzt ist es aus. Es gab keine Chance ihr zu entkommen und Maria probierte noch wegzuschauen, doch traf genau ihren Blick. Da stand ein lächelndes Kind, was aussah wie sie und Maria probierte noch wegzuhören, doch hörte genau: Du brauchst nicht rennen. Ich weiß es ist schwer, aber du musst zurück. Du kannst hier nicht für immer bleiben. Schau nach vorne. Und ehe Maria etwas antworten konnte, befand sie sich im Zug von vorhin und sah sehnsüchtig in die Ferne. Dort war alles so fröhlich, unbeschwert und die Welt war noch in Ordnung. Nun schaute sie aus dem Fenster in die traurige Welt, beobachtete eine ältere Dame, die an ihren Partner denkt, der letzten September noch da war. Unter dem fallenden Blättern des großen Baumes über ihr, wirken all die verdrängten Memoiren so schrecklich real. Die Dämmerung malte langsam schwarze Silhouetten dorthin, wo man gerade noch Menschen erahnte. Menschen, die die meiste Zeit damit verschwenden auf perfekte Momente zu warten und es dann doch nie wagen. Doch dann kamen ihr die verabschiedenden Worte von Marias jüngerem Ich in den Sinn. Man geht nie ganz – irgendetwas bleibt von dir. Ein winziger Teil bleibt hier. 

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