Kapitel 4 || Begrüßungsrede

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Die grünen Augen beleidigt und stur geradeaus gerichtet, saß Oriel auf der hinteren Kutschbank und durchbohrte Gilbert gerade zu mit ihrem Blick.Das konnte ja wohl nicht wahr sein! Das einzig Gute an ihrem Aufruf war gewesen, diesen Großkotz nie wieder sehen zu müssen. Und jetzt sollte er auch auf dieses Internat?!Das war nicht fair, so fand jedenfalls Oriel. Die meisten — beziehungsweise alle anderen, die aufgerufen worden waren, kannte sie nicht, aber das war ihr auch egal. Sie hatte nicht wirklich vor, irgendwelche supertollen, Friede-Freude-Eierkuchen-Freundschaften zu schließen. Schließlich hatte sie ja eine beste Freundin! Mehr brauchte sie definitiv nicht.Oriel atmete einmal tief ein und aus, für alle, die in ihrer Nähe saßen, musste das aussehen, wie eine Beruhigung, damit sie Gilbert nicht gleich Eine reinhauen würde.


Neben ihr saß ein schwarzhaariges, ebenso beleidigt drein blickendes, Mädchen. Ihr finsterer Blick galt jedoch dem weißhaarigen Mädchen, welches neben Gilbert saß. Oriel hatte keine Ahnung, wie die beiden Mädchen hießen und was deren Hintergrundgeschichte war, jedoch freute sie sich zugegebener Maßen ein wenig darüber, dass sie nicht die einzige Unzufriedene war.

Die beiden, die ihre Blicke abbekamen wiederum, blickten nur unbeteiligt aus den jeweiligen Fenstern rechts und links.

Und Heather, ein schmalgebautes Mädchen mit ungewöhnlichen lila Augen, saß eingeschüchtert und zusammengekauert in einer Ecke und blickte mit an den Körper gezogenen Beinen in die Ferne. Oriel sträubte sich, Mitleid mit ihr zu haben. Schließlich erwartete Oriel das gleiche Schicksal, nur noch 10 Mal schlimmer, denn Gilbert war ja auch von der Partie. Das hieß: Wenn jemand Mitleid verdiente, dann sie.

Diese Gedanken schockierten sie aber auch ein wenig, denn sie hatte niemals zuvor derartige Gedanken — von wegen, sie verdiene Mitleid, aber andere nicht — gehabt. Sie versank in Gedanken. Die Augen jedoch weiterhin stur und missbilligend auf Gilbert gerichtet.

Ein Gespräch kam die ganze Fahrt nicht zu Stande. Es herrschte eisiges Schweigen.


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Oriel betrachtete die riesige Eingangshalle, die Leute, die rein und raus liefen, bestaunte die Säulen, die Bilder, schaute sich die Pinnwände an.Sie streckte ihre Hand nach einer Skulptur aus, die ein Mädchen darstellte. Um es herum flogen Wassertropfen und auf ihrem Kopf hatten sich kleine Wolfsohren geformt. Sie ließ ihre Hand über das kalte Material gleiten.

Sie erstarrte.

Auf einmal flossen Bilder auf sie ein. Wie in einem schnellen Strom wurde sie mitgerissen. Bilder von Tieren, von Menschen, von Vampiren, von anderen grauenerregenden Wesen, ein roter Fuchs der freudig wedelnd auf sie zu lief, dann eine blutige Hand, die nach ihr griff.So plötzlich, wie das alles angefangen hatte, hatte es auch schon wieder aufgehört.Ruckartig zog sie ihre Hand von der Skulptur weg und ließ sie an ihrer Seite baumeln.Was war das gerade gewesen? Hatte sie geträumt? Oder es sich vielleicht auch einfach nur eingebildet?Sie beschloss das Ganze zu ignorieren. Was sollte schon passieren?Sie hatte immer mal wieder Tagträume. Und das Ganze gerade eben hatte sich auch nicht wirklich real angefühlt. Also war es bestimmt nichts, worüber es sich lohnte weiter Gedanken zu machen.

Sie fing an sich weiter umzuschauen.Ihr kleiner Beutel, den sie immer und überall mit sich rumtrug und in dem sich ihre wichtigsten und liebsten Gegenstände befanden, baumelte an einer Schnur von ihrem Handgelenk. Mit ihrer freien Hand berührte sie ihre Halskette. Was wohl ihr kleiner Bruder zu dieser mächtigen, wunderschönen Halle, zu all den magischen Wesen sagen würde?Sich das auszumalen schaffte sie nicht mehr, denn just in diesem Moment rief eine Person von der kleinen Bühne aus: „Alle Schüler, sowohl die Neuen als auch die Alten, versammeln sich bitte hier!"

Hektisches Durcheinander, ein Gedrängel und Geschubse entstand, als alle Schüler versuchten so schnell wie möglich zur Bühne zu kommen, um einen möglichst guten Platz zu kriegen.Oriel hingegen betrachtete nur die Person, die auf der Bühne stand. Sie hatte langes, glänzendes, wenn nicht sogar scheinendes, schwarzes Haar, welches ihr sanft und in Locken über die Schultern fiel.Die roten Augen musterten jeden einzelnen durchdringend. Es schien als müssten die Augen nur einmal über eine Person hinwegstreifen, damit die Person alles über diese erfahren konnte.Ehrfürchtig blinzelte Oriel sie an ... und erschrak. Die Augen schauten fest in die ihre. Musterten sie, durchleuchteten sie, erfassten jeden Gedanken, jede Erinnerung, jedes bisschen Angst, Hoffnung, Ärger. Es fühlte sich an wie eine Ewigkeit, war aber wahrscheinlich nur ein winziger Augenblick.

Jedenfalls fing sie sich wieder, sobald der Blick weiter glitt.Sie beeilte sich ebenfalls einen wenigstens halbwegs guten Platz zu bekommen.

Fast fünf Minuten später hatten sich endlich, so weit man es beurteilen konnte, alle versammelt.

„Erst einmal wünsche ich allen Neuen ein herzliches Willkommen, und den alten Hasen ein Willkommen zurück!"

Auch die Stimme ging Oriel durch Mark und Bein. In diesem Moment sprach definitiv eine andere Person als zuvor.Diese Stimme klang viel melodischer, viel hallender, viel ... faszinierender. Es war eine Stimme, die einen sofort vom ersten Augenblick in ihren Bann zog.

Es war komplett still in dieser Halle voller Hunderter Teenager.Ein Lächeln huschte über das Gesicht der Person auf der Bühne. Ganz so, als wäre ihr dieser Effekt bereits bekannt.

„Zunächst möchte ich mich vorstellen, dann die anderen Lehrkräfte, außerdem ist es mir wichtig, dass ihr ein Grundwissen über die Geschichte der MSA habt, dann kommt der ganze andere organisatorische Kram.

Also: Ich bin Mr. Harryson, der Leiter dieses Internats und außerdem der ehemalige Führer der Bellorica. —"

Bellorica. Oriel war beeindruckt, ihr Schulleiter war ihr Anführer gewesen? Dann musste er wirklich, wirklich mächtig und weise sein! Sie wandte sich wieder seiner Rede zu. Aber noch bevor er mit seiner Vorstellung und seinen Ausführungen fortfahren konnte, hallte die selbstverständliche Frage durch die Halle, die sich vermutlich jeder einzelne Schüler fragte: „Was sind Ihre Kräfte, welcher Spezies gehören Sie an?"Denn jeder wusste beziehungsweise konnte sehen, dass dieser Mann kein gewöhnlicher war.

Eine Spur der Missbilligung tauchte in den rot schimmernden Augen des Schulleiters auf, doch er fing sich sofort wieder und fuhr fort: „Zunächst bitte ich euch alle, solche Fragen in Zukunft zu vermeiden. Sie zeugt von Respekt- und Manierlosigkeit! Was meine Spezies und Kräfte anbelangt, werdet ihr früh genug Näheres über sie erfahren.Also weiter im Text.Ich bitte die Lehrer zu mir hinauf ..."

Es folgte eine lange Liste von Namen, die sich vermutlich niemand merken konnte.Oriel jedenfalls blieben nur folgende Namen im Gedächtnis: Miss Mana (die Göttin oder auch Hüterin des Sternzeichen Pisces) und Mr. Iustaequi (Der Gott oder Hüter des Sternzeichen Libra).Alle anderen kamen durch ein Ohr rein und durch das andere wieder raus, ganz so, wie es in der Schule sein sollte.

„Wenn wir dies nun erledigt hätten, würde ich äußerst gerne zu der Geschichte unserer Schule kommen. Sie entstand laut Legende, dies kann jedoch niemand bestätigen, vor 1.637 Jahren und wurde von den Gottheiten Jupiter, Minerva, Apollo und Diana geführt. Niemand kann sagen, ob das wirklich stimmt, schließlich stand diese Schule auch mehrere Jahrhunderte leer, um genau zu sein 601 Jahre, 3 Monate, 1 Woche und 4 Tage. Erst vor 713 Jahren wurde sie wieder in Betrieb genommen. Zu Ehren der vier Götter wurden die „Häuser" nach ihnen benannt und ihre Besonderheiten als Kriterium, wer in welches Haus kommen soll, genutzt.Die meisten von euch werden bereits die Unterlagen bekommen haben. Hagen ist zur Zeit noch dabei sie zu verteilen."

Genau in diesem Moment stand ein kleiner, schmächtiger Junge vor ihr.Er hielt einen Papier-Stapel und flüsterte so leise es ging: „Name?"Ebenso leise gab sie zurück: „Aquila, Oriel."

Er begann vorsichtig und Leise die obersten kleinen Stapel zu durchsuchen, zog einen heraus und händigte ihn ihr aus.

„Es sollte nicht lange dauern, bis diese in euch etwas auslösen. Etwas, das sich auf eurer Hand wiederspiegeln sollte."

Oriel starrte auf ihre Hand. Es passierte nichts.

„Es sollten ein großes Zeichen, das euch eurem Haus zu ordnet, und ein weiteres Zeichen, das eure Spezies beziehungsweise eure Fähigkeit darstellt, erscheinen. Wenn nur das Zeichen eures Hauses erscheint, ist es höchst wahrscheinlich, dass ihr eure Fähigkeiten noch nicht kennt.Aber auch wenn sich ein Zeichen auf eurem Handrücken abbildet, bedeutet dies nicht, dass ihr schon eure komplette Fähigkeit entdeckt habt. Es gibt immer wieder Schüler, die mit zwei Tattoos hier beginnen und mit fünf diese Schule verlassen."

Oriel warf erneut einen Blick auf ihren Handrücken. Tatsächlich zog sich nun ein grünglitzernder Pfeil über diesen.

„Außerdem gibt es noch ein weiteres Tattoo, dieses steht jedoch weder mit euren Kräften, noch mit eurem Haus in Verbindung. Es steht für eine seelische Bindung, für etwas ganz Besonderes."

Oriel warf einen kurzen Blick zu allen Seiten und bemerkte, dass viele ältere Schüler gelangweilt Löcher in die Luft starrten oder sich ganz leise mit ihrem Sitzpartner unterhielten.Kein Wunder, sie hatten sich diese Rede vermutlich alle schon mindestens einmal anhören müssen.Oriel hingegen war unglaublich gespannt, um was es bei diesem letzten Tattoo ging.

„Es steht für eine Bindung zwischen euch und einem Tier. Nicht irgendeinem Tier. Eurem Seelenverwandten! Dieses Tattoo bekommt ihr, sobald ihr es trefft. Es wird sich auch nicht unbedingt auf eurem Handrücken manifestieren. Es kann auch sein, dass es sich komplett über euren Rücken zieht, an einem Bein auftaucht, oder irgendwo anders.

Naja, genug zu dem Thema. Lasst uns zu den Häusern und ihren Symbolen zurückkehren. Habt ihr einen Pfeil auf eurem Handrücken gehört ihr ins Haus Diana, wenn es ein Schild ist, werdet ihr euch dem Haus der Minerva anschließen, bei einer Leier ist euer Haus das Haus des Apollos und bei einem Blitz könnt ihr euch dem Hause Jupiter anschließen."

Danach kam nichts Spannendes mehr. Nur noch die Schulregeln und ein paar andere organisatorische Dinge. Anstatt zuzuhören, richtete sie ihre Aufmerksamkeit nun auf die Unterlagen.In welchem Zimmer sie wohl gelandet war? Und mit wem sie es sich wohl teilen würde ...Die Antwort darauf nahte bereits.

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