IV

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LUAN

Als Luan aufwachte geschah das nicht in seinem Bett, sondern inmitten von strömendem Regen gepaart mit dem widerlichen Geruch von Whiskey.
Er ging nie bei Regen raus. Er hasste die Tropfen, die vom Himmel fielen. Whiskey trank er auch nicht. Woher also kam dieser Fleck auf seinem T-Shirt?
Als er sich umblickte, entdeckte er ein bunt leuchtendes LED-Schild, das über einer Bar hing. Falkenschwinge. Er befand sich also in der Innenstadt. Nun wusste er, wie er nach Hause kam, im Regen hielt er es kaum aus. Gefühle und Erinnerungen, die er verdrängt geglaubt hatte, wurden durch die Himmelstränen an die Oberfläche gedrückt. Sie stießen immer wieder an, warteten nur darauf, dass sie die Mauer an einer besonders schwachen Stelle durchbrechen und ihm mitreißen konnten.

Er eilte durch die Straßen, seine Kleidung durchtränkt von Wasser. Jeder Schritt schien ihm schwerer zu fallen. Mit jedem Schritt wurde das Bild vor seinen Augen deutlicher.

Er schaffte es bis vor seine Wohnungstür, fummelte den Schlüssel mit hektischen Bewegungen aus seiner Tasche, verfehlte mehrmals das Schloss. Als er die Tür öffnete und wieder schloss war sie da - die Erinnerung.

Er war noch klein, vielleicht drei Jahre alt. Eher zwei. Er war mit seinen Eltern und seiner Schwester im Urlaub. Es regnete. Sie mussten falsch abgebogen sein, denn die Häuser wurden immer heruntergekommener.
Große Männer in dunkler Kleidung standen plötzlich vor ihnen. Sie kamen aus dem nichts. Einer der Männer griff nach seinem Arm, hielt ihn fest. Er schrie. Regen tropfte in seine weit aufgerissenen Augen. Er sah seine Eltern nicht. Nur seine Schwester. Einer der Männer hielt auch sie fest.
„Kohle her oder die Kleine ist tot!" Seine Stimme klang bedrohlich.
„W-w-wir haben nichts dabei. Ehrlich." Er konnte die Angst aus der Stimme seines Vaters heraushören.
„Denkt noch mal nach."
„Nein, w-w-wirklich."
„Ihr habt es so gewollt." Ein silbernes Blitzen. Ein Schrei. Und dann Blut. So, so viel Blut. Es tropfte auf den Boden, bildete eine Lache, wollte nicht mehr aufhören zu fließen.
„Du Monster! Sie war erst fünf!" Sein Vater brüllte. Seine Mutter war auf den Boden gesunken, Tränen tropften aus ihren Augen. Ansonsten - keine Bewegung.
Dann - ein Lachen. Ein lautes, schrilles Lachen. Es kam von dem Mann, der ihn am Arm gepackt hatte.
„Ihr habt es nicht anders gewollt." Der Mann lachte noch immer.
Der mit dem Messer gab den anderen ein Zeichen. Sie gingen und ließen die kleine Familie zurück, vor ihnen ihre tote Tochter.
Er konnte sich nicht bewegen. Kein Zucken durchfuhr seinen Körper, keine Träne verließ seine Augen. Nichts. Er starrte einfach stumm auf das blasse Gesicht seiner Schwester.
„Hey, Schätzchen. Schau nicht hin, bitte." Sein Vater hatte sich dicht vor ihn gekniet, nahm ihn in den Arm, um ihn vor dem furchtbaren Anblick abzuschirmen. Doch er konnte nicht wegschauen, erblickte sie noch immer über die Schulter seines Vaters hinweg.
Dieses Bild hatte sich für immer eingebrannt.

Tränen versperrten ihm die Sicht, als er aus der Erinnerung auftauchte. Die nächsten Monate waren nicht in seinem Gedächtnis geblieben, auch nichts vor dem Ereignis. Nur diese wenigen Minuten. Diese Zeit war ein beschriebenes Blatt Papier, das irgendwann ausradiert worden war. Bis auf eine Zeile. Sie war noch klar und deutlich erkennbar, zu jedem Zeitpunkt abrufbar, selbst wenn das Blatt selbst schon vor Jahren zerknüllt im Papierkorb gelandet war. Diese Zeile wurde herausgerissen und untrennbar festgeklebt.
Seine Tränen wurden immer dunkler. Seine Sicht schränkte sich ein, immer kleiner wurde das Feld des Lichts, bis die Schwärze schließlich alles verschluckte und seine Augen zufielen.

S.M.I.L.EWo Geschichten leben. Entdecke jetzt