Kapitel 3

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Ein stinkender Wind heulte durch die enge dunkle Gasse. Der Geruch der Fäule begleite Lex schon die ganze Zeit. Er saß auf einer alten splitternden Kiste mit einer Aufschrift, die er nicht lesen konnte. Über ihm schwebten Wäscheleinen, an denen keine Kleidung mehr hing. Am Mittag, wenn die Sonne am höchsten stand und am gnadenlosesten auf die Stadt schien, landeten einige wenige Strahlen in der Gasse. Lex konnte die Bewegung der hellen Flächen wandern sehen, wie die Linie des Schattens langsam immer weiter verschoben wurde.
Hier trafen sie sich jeden dritten Tag in der Woche. Heute war es Lex, der auf die anderen wartete. Er stand sehr früh auf, als die Sonne noch nicht zu sehen war und schlich sich aus dem Haus, nachdem er den Kälteverband auf der Stirn seiner Mutter erneuert hatte. Die Nacht schlief er nicht gut, häufig schreckte er auf, als er hörte, wie seine Mutter sich gequält im Bett wandte. Auch sie war stark und wollte ihre Schwäche nicht vor ihrem Sohn zeigen. Doch leider hatte Lex nicht geschlafen und ihren Kampf mit der Krankheit mitbekommen.

Als Liam kam, verschwand der Fäulnisgeruch in der Nase von Lex. Stattdessen breitete sich ein wohltuender Geruch der Frische aus. Gestern hatte Lex ihm die Sachen gewaschen.

„Ich rieche so gut!", sagte Liam und sog den frischen Duft seines Ärmels durch die Nase. Lex konnte kaum seine Konturen erkennen, denn die Sonne in Liams Rücken blendete ihn. Erst als er sich neben Lex auf die marode Holzkiste setzte, erkannte er, dass sich bereits neue Grasflecken auf seinem Hosenbein befanden. „Ich hatte schon vergessen, wie saubere Sachen riechen."

„Wenn man die Sachen immer trägt und sie nie ablegt, dann fangen sie an zu stinken und man riecht es nicht. Außerdem schau! Kaum trägst du saubere Sachen, schon hast du wieder einen neuen Fleck", sagte Lex und zeigte auf Liams Hosenbein.

„Oh! Wo kommt das denn her? Außerdem, wenn ich meine Sachen ausziehe, dann werden sie mir wahrscheinlich geklaut. Aus diesem Grund wasche ich die Sachen immer mit, wenn ich mich selbst auch wasche."

„Dann mach das häufiger", stänkerte Lex.

„Ist dir eine Laus über die Leber gelaufen? Warum bist du so schlecht drauf?", konterte Liam.
„Ich habe nicht die Beste alle Nächte hinter mir."

„Frag mich mal! Du beschwerst dich, dass deine alte Pritsche dir den Rücken krümmt. Entschuldige, aber darf ich anmerken, dass das Pflaster, auf dem ich heute geschlafen hatte, nicht sonderlich gut ausgepolstert war?"

Lex wollte antworten, doch seine Antwort wurde von Liams lautem Magenknurren unterbrochen.

„Hast du Hunger?", fragte Lex.

„Nein, mein Magen wollte dich nur begrüßen", sagte Liam und hielt sich den Bauch mit leicht schmerzverzerrtem Gesicht.

„Willst du etwas essen? Ich habe noch ein wenig übrig."

Eigentlich wollte Lex sich das Stückchen seiner selbstgebackenen, harten Brotkrusten bis zum Mittag aufheben, um es selbst zu essen. Allerdings wusste er, dass Liam wegen den neuen Reusen seit zwei Tagen keinen Fisch mehr fing. Er kramte etwas in seiner Stofffetzenjacke, bis er mit seinen Fingern ein einfach besticktes kleines Tüchlein griff, in dem sein Brot eingewickelt war.

„Hier!", sagte Lex und hielt Liam sein Päckchen hin.

„Bist du dir sicher?"

„Ja, ich weiß, wie scheiße es ist, Hunger zu haben", stellte Lex klar. Er hasste es, wenn andere ihn darauf reduzierten, dass er mit seiner Mutter einen Raum teilte, in dem sie schlafen konnten. Auf der anderen Seite wusste Liam aber auch nichts über den Zustand seiner Mutter. Lex hatte es ihm nie erzählt, denn einige Menschen hielten die Krankheit für ansteckend. Kein Wort verlor er über die schlaflosen Nächte oder die tausenden Ängste in seinem Kopf. Er wusste nicht wie Liam reagieren würde.

Projekt LuciferWo Geschichten leben. Entdecke jetzt