Wir hatten bald Gelegenheit, dir Neue näher kennen zu lernen. Am Tag darauf stand sie schon in unserer Klasse. Sie sah immer noch so blass und müde aus. Ihr Name war Inga Hoff. Ich beobachtete, wie sie neben Hanne Platz nahm, ihr kurz zunickte und sich in der Klasse umsah. es war irre: Sie sah sich auch, und doch hatte ich den Eindruck, sie sah niemanden, nahm niemanden zur Kenntnis! Erst als sie Andy sag, flog ein flüchtiges Lächeln über ihr Gesicht.
In der ersten Pause stand alles beieinander und wunderte sich: Wer wechselt kurz vor den großen Ferien die Schule? Inga aber saß an ihren Tisch, als wären wir gar nicht vorhanden. Bärbel versuchte mit ihr zu reden, ließ es aber bald sein.
"Es hat keinen Zweck", sagte sie. "Die ist maulfaul."
In der großen Pause gingen Herbert, Andy und ich zu dritt über den Schulhof. Herbert lies sich über ein Matheproblem aus, er wollte es Andy erklären. Andy tat, als hörte er zu, in Wirklichkeit aber sah er nur Inga, de allein und in Gedanken versunken über den Schulhof wanderte. Ich stieß Herbert an: "Lass dein Geplauder! Der sieht und hört nichts." Herbert kapierte nicht gleich, Andy aber sah mich böse an: "Red doch keinen Scheiß!"
An diesem Tag kam Andy nicht aufs Dach. Er hatte Herbert angerufen und gesagt, er hätte keine Zeit. Herbert und ich lagen auf unseren angestammten Plätzen, und Herbert versuchte, mir Englisch beizubringen. Doch ich konnte mich nicht konzentrieren. Ab und zu stand ich auf und sag zu dem bewussten Balkon hinüber. Dann sah ich Inga. Sie stand vor der Haustür und unterhielt sich. Mit Andy. Sie trug Jeans und ein blaues, langärmliges T-Shirt, sag gut aus und lachte. Andy lachte auch. Herbert schüttelte den Kopf: "Also dafür hat er Zeit!" Dafür hätte ich auch Zeit gehabt, dafür hätte ich auch die Paukerei auf dem Dach sausen lassen.
Wir sagen ziemlich lange auf die beiden hinab. Andy und Inga aber kamen nicht ein einziges Mal auf die Idee, zu und hochzusehen, so vertieft waren sie ineinander.
Herbert schüttelte noch einmal den Kopf: "An seinem Galgen wird bereits gezimmert, Romeo aber lauscht Julia, anstatt zu fliehen." Herbert, wie er leibt und lebt!
Die beiden auf der Straße lösten sich von der Haustür, schlenderten die Straße entlang und bogen um die Ecke. "Machen wir weiter?", fragte Herbert. "Rien ne va plus", erwiderte ich. "Nichts geht mehr."
Ich warf meinen Kram in die Decke, machte ein Bündel daraus und ging in unsere Wohnung hinunter. Im Wohnzimmer Legte ich mich auf die Couch, stellte das Radio an und war sauer. Ich nahm Andy übel, dass er Herbert und mich kaltgestellt hatte. Andy war nie ein Ausbund an Offenheit gewesen; die Lehrer sagten, er wäre schlecht zu erreichen. Herbert und ich wussten das, akzeptierten auch, dass Andy hin und wieder für dich behielt, was in seinem Gehirnkasten so vor sich ging; wir sagten und: Er ist halt di! Das mit Inga aber war Absicht gewesen, ein Trick.
Ich stellte das Radio aus und wieder an. Herbert, Andy und ich kennen einander, solange wir denken können. Auch unsere Eltern kennen sich. Andys Eltern haben lange auf ihn warten müssen. Als er endlich da war, war die Freue groß: Andy hier, Andy da, Andy überall! Es gab nichts, was Andy nicht durfte, was er nicht als Erster von uns allen bekam. Andy aber nutzte die Großzügigkeit seiner Eltern nie aus, hielt immer Maß und war auch viel zu bescheiden, um mit seinem dicken Portmonee, seinem Fahrrad oder Mofa zu prahlen.
Herbert ist ein anderer Fall, ist ein ewiger "armer Herbert". Obwohl er vom Können her uns alle in die Tasche steckt. Sein Vater starb jung, war ein kränklicher Mensch. Herberts Mutter heiratete nicht wieder. Sie geht arbeiten, hält die Wohnung in Ordnung, ist still, freundlich, zurückhaltend; sie sorgt dafür, dass Herbert genug Zeit zum Lernen hat. Wenn es den beiden an etwas fehlt, ist es Geld.
Manchmal ist es eine Strapaze, mit Herbert und Andy befreundet zu sein. Als wir elf Jahre alt waren, wollten wir einmal in einen Tarzan-Film. Schön alt, richtig gut! Wir freuten uns schon tagelang vorher. Als es so weit war, hatte Herbert kein Geld, ich nur für mich und Andy wie immer mehr, als er benötigte. Andy fragte mich, wie wir Herbert auf seine Kosten mitlotsen könnten. Er dachte an Herberts ausgeprägtes Ehrgefühl. Ich ärgerte mich damals fürchterlich. In wenigen Minuten begann der Film, ich hatte Geld und konnte nicht ins Kino, weil der eine meiner Freunde zu viel, der andere zu wenig Geld hatte, und weil der eine zu zimperlich war, dem anderen kurz entschlossen eine Kinokarte zu kaufen, und der andere zu ehrpusselig, danke zu sahen und zu genießen. Ich musste mir was einfallen lassen. Also ging ich an einen Kiosk und kaufte drei Tüten Eis. Da Andy nahm, nahm Herbert auch. Ich war nun ebenfalls pleite, Andy musste Herbert und much ins Kino einladen. Da Herbert nicht mehr einziger Almosenempfänger war, ging er mit.
Viel hat sich in dieser Beziehung bis heute nicht verändert. Ich bin nicht heiß ersehnt worden wie Andy, bin nicht das Ein und Alles meiner Eltern wie Herbert im Leben seiner Mutter. Als ich zur Welt kam, studierte mein Vater noch, meine Mutter verdiente nicht viel - ich kam ungelegen. Es wäre nicht fair, Andys und meine Eltern zu vergleichen. Dazu war ihr Leben zu unterschiedlich. Dennoch: Ich hatte mir manchmal das Vertrauen gewünscht, das Herr und Frau Wilke Andy entgegenbrachten. Sie sagten nie: Um acht bist du zu Hause! Sie sagten: Wir essen um acht, wenn du später kommst, sag vorher Bescheid. Sie ließen ihr Geld in einer offenen Kassette liegen, vergaßen auch manchmal das Portmonee im Wohnzimmer. Und wenn sie Andy einkaufen schickten, rechneten sie das Wechselgeld nie nach, sondern nahmen es und bedankten sich.
Meine Eltern sind anders. Geld wird immer ordentlich weggeschlossen. Man soll niemanden in Versuchung führen, sagt mein Vater. Vielleicht war er als Kind oft in Versuchung, ich jedenfalls war noch nie in Versuchung, auch wenn Vater mir das - bis vor kurzem jedenfalls - nicht glaubte.
Als ich klein war, saß Vater ständig hinter einem Berg von Büchern und studierte. Besuchte ihn ihn, störte ich nur. Einmal sagt er in seiner Wut, ich sei ein besonders lautes Kind. Da hielt ich die Klappe, bis er schließlich fand, ich sei verschlossen. Dazu fiel mir nichts weiter ein als heulen. Drei, vier Rage war er dann wie ausgewechselt, spielte mir mir und lachte. Dann hockte er wieder über seinen Zahlen, Formeln, Zeichnungen, ackerte für seinen Beruf: Elektroingenieur.
Carola wurde in eine Glückssträhne hineingeboren. Sie ist vier Jahre jünger als ich. Sofort nach ihrer Geburt gab Mutter ihre Stellung auf, ging auch später nur noch halbtags arbeiten. Vater hatte ausstudiert und eine Stellung gefunden. Er baute um und richtete für Carola und mich eigene Zimmer ein.
Carola ist hübsch. Alle mögen sie. Ich auch. Eine Zeit lang schien es, als färbe Carolas Glanz auf mich ab, doch das war nicht von Dauer. Ich war der "dritte Erwachsene", der alles können, Vorbild sein musste und keines war. In der Schule Mittelmaß und auch sonst nicht besonders begabt, enttäuschte ich meinen Vater Jahr für Jahr aufs Neue. Carolas Schulstart verlief optimal, sie fand sich bestens zurecht, sang im Schulchor, und ihre Zeichnungen hingen überall in den Fluren der Schule.
Mutter und Carola sehen sich ähnlich. Ich mag Mutter und Mutter mag mich auch. Stimmt etwas nicht zwischen uns, dann das: Für Mutter ist Vater eine Art Boss. Sie widerspricht ihm nicht. Passt ihr etwas nicht, schweigt sie. So kommt es, dass die beiden manchmal tagelang nicht miteinander reden.______________________________
Dieses Kapitel ist etwas länger:) Wollt ihr lieber lange oder kurze Kapitel?<3
Voten und kommentieren nicht vergessen:)!Eure Nessa<3
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Die Einbahnstraße
Teen FictionAndy, Herbert und Charly sind Freunde, büffeln zusammen für die Schule, hören Musik. Eines Tages beobachten sie, wie im Haus gegenüber ein Mädchen einzieht - Inga. Andy ist von Inga gebannt. Auch als sich herausstellt, dass sie drogensüchtig ist, we...