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Der Juni dieses Jahres war ein besonders heißer Monat. Für Andy und mich in zweierlei Hinsicht: erstens, das Wetter, zweitens die Furcht, die neunte Klasse wiederholen zu müssen. Andy stand in Mathe und Chemie, ich in Englisch und Französisch auf Fünf. Nur Herbert - Notendurchschnitt 1,7! - hatte keine Sorgen. Sorgte er sich, dann um Andy und mich. Er versuchte uns mit durchzuziehen. Er lernte mit uns. Jeden Nachmittag.
Es war so heiß, dass Herbert, Andy und ich uns einen Platz suchten, wo wenigstens ab und zu einmal ein Lüftchen wehte. Schließlich fanden wir auch einen: auf dem Dach des Hauses, in dem ich wohne. Wir breiteten Decken aus, um nicht auf der heißen Dachpappe sitzen zu müssen, tranken eiskalte Cola, aßen Obst, rauchten, diskutierten und lernten.
Herbert ist schmal, kurzlockig und blond. Seine Haut ist weiß. Nach dem ersten Tag auf dem Dach hatte er einen Sonnenbrand. Deshalb trug er ständig ein T-Shirt, auch wenn die Hitze noch so groß war.
Andy ist das Gegenteil von Herbert: schwarzhaarig, braun gebrannt, dunkle Augen. Er kommt an bei Mädchen, ist sehr sensibel, träumt viel.
Ich bin der Graue. Nicht blass, nicht braun, nicht blond, nicht dunkel - unauffällig bis zum Nichtvorhandensein. Die ganze Stadt litt unter der Hitze.
Die, die einen Garten besaßen, waren aufgerufen, die Rasenflächen nicht zu sprengen. Sie machten es trotzdem. Nachts. Die Wiese im Park war gelb, die Rasenquadrate der Gärten waren grün. Von unserem Dach aus war das gut zu erkennen.
An jenem Tag, an dem mein Bericht beginnt, lag ich im Schatten der Brandmauer, drehte mir eine Zigarette und blickte auf unsere Straße hinab. Eine endlose Autoschlange hatte sich gebildet, der Verkehr war ins Stocken geraten; ein Möbelwagen versperrte den nachfolgenden Wagen den Weg. Die Möbelträger öffneten die Tür zur Ladefläche und begannen Stühle, Tische und Kisten abzuladen. Einige PKW-Fahrer verloren die Geduld, sie stiegen aus ihren Autos und beschimpften die Möbelträger. Die arbeiteten weiter, als ginge sie der Ärger der Fahrer nichts an.
Ich wollte Andy und Herbert auf die Szene aufmerksam machen, aber die lagen bäuchlings auf der Decke und blätterten in Andys Mathebuch.
Die Möbelfahrer luden ihr ganzes Zeugs aus. Geduldig ließen sie sich einen Vogel nach dem anderen zeigen. Erst als alles auf den Bürgersteig stand, führ der Möbelwagen weiter. Die PKW-Fahrer stürzten zu ihren Autos zurück, die Möbelträger lachten und begannen die Möbel ins Haus zu tragen.
Ich drückte meine Zigarette aus und wollte mich abwenden. Da fiel mein Blick auf ein blondes Mädchen, das bei den Möbelträgern stand. Es lehnte neben dem Hauseingang. Ich behielt das Mädchen im Auge, bis es im Haus verschwand. Dann suchte ich die Fenster des gegenüberliegenden Hauses ab. Irgendwo hingen sicher keine Gardinen, eine Wohnung musste leer stehen. Ich fand die Wohnung; sie gehörte zu einem Balkon im dritten Stock. Nicht lange, und das Mädchen stand auf diesem Balkon.
Wa war blass, fast bleich und nicht besonders hübsch. Es trug ein langärmliges Sweatshirt - trotz der Hitze. Das Mädchen sah mich, wandte sich ab und begann Blumenkästen in die dafür vorgesehenen Halterungen zu stellen. Dann nahm es einen Sack mit Blumenerde und eine Schaufel und verteilte die Erde in die Kästen. Dabei sah es einmal kurz zu mir hoch. Ich grinste und erwartete ein Lächeln. Das Lächeln blieb aus.
Andy musste mitbekommen haben, dass ich nicht ins Blaue hineinlächelte. Auf einmal stand er neben mir. Das Mädchen sag von mir weg und Andy an. Andy lächelte, das Mädchen lächelte zurück. Andy wandte keinen Blick von dem Mädchen. Bis es den Balkon verließ.

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Ich hoffe euch hat das Kapitel gefallen:)
Über Votes und Kommentare würde ich mich freuen!

Eure Nessa<3

Die EinbahnstraßeWo Geschichten leben. Entdecke jetzt