"Я люблю, ты любишь, он, она, оно любит"*, rollt es ihm wie Dampf aus dem runzligen Maul, "мы любим, вы любите, они любят...."
Ich habe keine Zeit für Russisch. Ich mache Sprachwissenschaft. Lerne: Hyponymie. Hypernymie. Holonymie. Hippopothamusnymie, so gefällt uns das.
"Я люблю", fängt es neben meinem Ohr wieder an.
"Und dich liebe ich nicht", grolle ich in meine Notizen hinein.
"Warum nicht? Magst du keine Drachen?"
"Ich kenne dich nicht. Und ich weiss", nächsten Link aufrufen, "Liebe erfordert eine emotionale Verbindung, im Gegensatz zu Frust. Merkmalssemantik: Verbindung bei Liebe ein Plus, für den Frust ein Minus."
"Merk dir doch", der Dampf kriecht unangenehm in mein Ohr, "erst einmal meinen Namen, hm? Das Elend. Ich bin das Elend."
"Sprechender Name." Ich spreche zu meinen Notizen.
"Dramatisch."
"Drama-Theorie", verbessere ich das Elend.
"Weisst du, warum ich diese Vokabeln nehme? Я очень люблю драконов. Und es ist immer ein gutes Thema. Liebe. Man kann sich herrlich darüber aufregen. Es diskutieren. Ich liebe Drachen sehr, denn ich bin ein Drache."
"Ich liebe die Menschen nicht, denn ich bin ein Mensch."
"Und das ist auch schon das Elend an der Sache." Der Drache robbt über den Tisch, bis seine Schnauze in meinen Papieren steckt. "Es ist ständig Thema. Und dabei ist es so unzuverlässig, so flüchtig."
"Wenn du versuchst, tiefsinnig zu sein, warum belästigst du nicht einen anderen Dichter, der an dem Thema mehr Spass hat?" Ich lege den Stift ab. "Es ist sicher interessant, ja. Aber auch sehr ausgelutscht. Und ich kann die ewige Betonung nicht mehr hören, wie wichtig und toll das doch ist, dann lassen sie sich übereilt drauf ein und wundern sich, wenn nichts zurückkommt. Kann ich mich nicht ausschliessen, aber darin einschliessen will ich mich auch nicht."
"Ich mein ja nicht nur die Liebe zum Schmachten. Auch die zum Stein, zur Katze, zum Baum, zum Himmel, zum Buch, zur Farbe."
"Aber das ist nicht flüchtig und unzuverlässig. Das ist fest. Ein Stein rollt dir ja nicht weg. Und Katzen sind überall."
"Die flüchtige Liebe schnüffeln sie gern wie Gas. Und auf der festen sitzen sie und merken es nicht."
Nun, ich für meinen Teil sitze auf meinem Arsch und habe immer noch die semantischen Relationen zu lernen. Soll das Elend doch philosophisch sein, wie es will. Aber so ganz lassen kann ich es nicht. "Immerhin die feste Liebe", fange ich an und schon saust das Drachenauge erwartungsvoll hoch, "Stein und Baum und so weiter, über die muss man nicht unbedingt reden, aber man sollte sie öfter fühlen. Menschen können sehr enttäuschend sein, doch man hat immer noch den Rest der Welt."
"Und Drachen." Das Elend rollt sich wieder auf seinem Stuhl zusammen. "Man sollte immer ein Herz für Drachen haben."
Finde ich gut. Ich lerne weiter. Gegenüber dampft es: "Я люблю драконов, ты любишь драконов..."
*"Я люблю, ты любишь, он, она, оно любит" = "ich liebe, du liebst, er, sie, es liebt"
"мы любим, вы любите, они любят...." = "wir lieben, ihr liebt, sie lieben"
"Я очень люблю драконов." = "ich liebe Drachen sehr"
"Я люблю драконов, ты любишь драконов..." = "ich liebe Drachen, du liebst Drachen"
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Der Drache Elend
Short StoryEin mehr oder weniger philosophisches Stück über Liebe, Leid, Leute und das Elend, welches ein Drache ist. Schriftart bei "Ennperator": "Reenie Beanie" von James Grieshaber. Cover ansonsten von mir.