2. Leid

4 2 0
                                    

"Я плачу, ты плачешь, он, она, оно плачет, мы плачем, вы плачете, они плачут...* findest du, dass Menschen weinen sollten?"

Ich blicke auf. "Hä?"

"Ob Menschen weinen sollten."

"Wenn sie müssen, ja." Ich jucke mich am Ohr.

"Kannst du dir vorstellen, dass es Menschen gibt, die nicht weinen müssen?"

Kann ich das? Es klingt beunruhigend. Eine Zeit, in der man nicht weinen muss. Ich bin im Leid aufgewachsen. Einem Leid, von dem mir gesagt wurde, dass es ja nicht so schlimm sei. Und es gibt Schlimmeres, das ist wahr, es hat Schlimmeres gegeben und wird immer Schlimmeres geben. Ich bin so sehr mit dem Leid zusammengewachsen, dass ich Angst bekam vor einer Welt ohne. Denn wenn das Leid jetzt gerade nicht da war, hiess das nur, dass es bald wiederkommen würde, wie ein Freund aus den Ferien. Deswegen waren sogar die Ferien ein Grund zu weinen.

"Ja und nein." Unruhig tippe ich mit dem Stiftende auf das Papier. "Ich glaube, dass es solche Menschen gibt, aber ich glaube nicht, dass ich wirklich weiss, wie sich das anfühlt."

"Macht dich das traurig?"

"Nein. Es bedeutet, dass ich immer vorbereitet bin. Es bedeutet nicht, dass ich die Zeit ohne weinen nicht schätzen kann. Das habe ich mir beigebracht."

Ich fege über mein Blatt. "Es tut mir nicht leid: Dass ich das Leid kenne, und dass ich damit leben kann. Es klingt so düster, aber was soll ich tun? Wäre alles andere nicht naiv? Es wird immer irgendwann bergab gehen. Das heisst nicht, dass es nicht auch einmal bergauf gehen kann. Manchmal möchte ich, dass ich anderen dafür leid tue, aber dann will ich es doch nicht. Warum auch? Es wird immer ein bisschen wehtun, sonst ist es kein Leben."

"Wie ist die Welt ohne Leid?", fragt der Drache.

Ich muss nicht einmal von meinen Notizen aufschauen. "Leer und lauernd." Semantischer Wandel, das heisst: Bedeutungsübertragung, Bedeutungsverschlechterung, Bedeutungsverbesserung und so weiter. "Und für die Bedeutungsverbesserung muss man manchmal einfach selbst sorgen. Stell dir vor, du stehst draussen, früher Abend, und in den glühenden blaugrau-lila Himmel schneiden die zierlichen, schwarzen Äste und eine Katze sitzt da und leckt ihr Pfötchen. Du fühlst die feste Liebe. Die Luft riecht gut, dein Herz ist ruhig. Und doch weisst du: Der Moment wird vorbeigehen und morgen taumelst du wieder durch den Bahnhof, der stinkt nach Furz und Ei. Eines Tages wird es sich anfühlen, als wäre der Moment nie gewesen. Vielleicht schon nach einer halben Stunde wird es sich so anfühlen. Eines Tages könntest du den Moment sogar vergessen, und dann ist er auf eine Art wirklich nie da gewesen. Das alles begreifst du, noch während du dort stehst. Da hast du eine Scherbe von deinem täglichen Leid. Und dann musst du wählen, willst du, dass dir der Moment nichts und nichts Gutes bedeutet, weil die Katze einmal tot sein wird und der Baum gefällt und du wieder verzweifelt, oder willst du die Bedeutung erhalten und verbessern? Immerhin hast du da einmal gestanden. Und wenn du da nur oft genug stehst, wird sich das Bild nach und nach in dich einprägen und du kannst dich immer daran erinnern und es ist, als wärst du wieder dort. Du schreibst darüber, du malst es auf, du sprichst davon."

"So klingt das Leid aushaltbar. Eine Katze vermissen, und sonst?" Der Drache tönt fast spöttisch.

"Auf der anderen Seite der Scherbe liegst du im Bett und heulst, und die Decke schützt dich nicht und die Wand nicht und das Dach nicht. Du denkst, du bist verdammt, der Moment hört nie auf, und es wird nie wieder einen Bahnhof geben. Bahnhöfe existieren nicht mehr. Vielleicht schreibst du darüber, malst es und sprichst es aus, oder vielleicht verdrängst du es danach auch so sehr, dass du es gar nie mehr akkurat wiedergeben könntest, selbst wenn du wolltest. Aber ein Stück dieser Scherbe steckt jetzt für immer in dir."

"Du könntest aus den Scherben ein Mosaik formen."

"Dann sehe ich mein Spiegelbild darin und das will ich nicht. Ich will es nicht noch einmal so sehen." Jetzt ist mir etwas schwer zumute. Blöder Drache. "Zum Glück weiss ich, dass es jene und solche Scherben gibt, und mittlerweile glaube ich mir, dass ich auch die hässlichen Scherben ertragen kann. Ich muss, denn wenn ich aufhöre, wie soll ich mich an die Katzenscherben erinnern oder sie erleben können? Dafür muss ich leben, und um zu leben, muss ich ertragen."

Der Drache rollt sich zusammen und schiebt die Schnauze unter den buschigen, rotglänzenden Schweif. "Я плачу", murmelt er, "ты плачешь, он, она, оно..."



* "Я плачу, ты плачешь, он, она, оно плачет, мы плачем, вы плачете, они плачут..." = "ich weine, du weinst, er, sie, es weint, wir weinen, ihr weint, sie weinen"

Der Drache ElendWo Geschichten leben. Entdecke jetzt