Prolog

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Jahre zuvor...


Leise. So still und heimlich es nur irgend geht, bewegt er sich durch sein Zimmer im ersten Stock des unscheinbaren Einfamilienhauses. Seine Kinderstube. Die Schranktür ist gar nicht verschlossen, nur angelehnt. Er weiß, sie quietscht ein wenig, wenn er sie weiter als zur Hälfte öffnet und er weiß auch, es genügt. Viel ist nicht drin in seinem alten abgewetzten Rucksack. Zwei Unterhosen, ein T-Shirt, eine Jogginghose, ein Regencape und ein Portemonnaie. Gut gefüllt ist es nicht. Im Gegenteil. Er weiß, das kann zu Problemen führen, ihn in neuerliche Schwierigkeiten bringen, das aber muss er in Kauf nehmen. Das und so vieles mehr. Irgendwie wird er schon durchkommen. Zur Not wird er betteln müssen oder in Mülleimern wühlen. Schlimmer als jetzt kann es nicht werden. Schlimmer als jetzt geht nicht, da ist er sicher. Was merkwürdig sein mag, denn das war es schon einmal. Nur das was da passiert ist, das wird nie wieder passieren. Nie mehr. Ihm nicht und seinem kleinen Bruder nicht.


Der schmächtige, geradezu dürre Junge müht sich nicht, die Schranktür wieder zu schließen. Er würdigt sie keines Blickes mehr, schlüpft stattdessen in seine abgewetzten ehemals weißen Turnschuhe. Dann öffnet er das Fenster. Eisige Luft schlägt ihm entgegen, nimmt ihm beinahe den Atem. Es ist kälter in dieser Dezembernacht, als er es erwartet hätte. Dabei hätt er es doch wissen müssen. Da draußen kennt er sich doch aus. Vorsichtig testet er, wie glatt das Vordach ist. Er weiß sehr wohl wie riskant sein Vorhaben ist, auch aber, dass niemand damit rechnet, er könnte diesen Weg wählen. Er setzt den ersten Fuß auf die Ziegel. Rutschig ist es, aber machbar; und der Weg bis zum Fallrohr ist nicht weit. Das jenes ihn trägt, das weiß er. Das hat er schon getestet. Nicht nur einmal. Tief durchzuatmen wagt er nicht. Auch nicht, als er es erreicht hat. Weiß treten seine Fingerknöchelchen hervor, als er sich festklammert, nahezu hinein krallt. Eine Kuppe beginnt zu bluten. Schmerzen aber spürt er keine. Schon lange nicht mehr. Er weiß nicht mehr, wann er das letzte Mal geweint oder geschrien hat. Er könnte sich ganz sicher zurück erinnern. Das aber will er gar nicht. Davor rennt er ja gerade davon.


Als er am Boden ankommt, hat er noch ein paar Kratzer mehr. Ein paar an den Beinen. Einen an der Wange. Den hat er sich ungeschickt beim Abspringen sogar selbst zugefügt. Das aber ist egal, das kümmert ihn nicht. Er macht sich nicht die Mühe das Blut abzuwischen. Das wird er tun, wenn er in Sicherheit ist. Gerade denkt er nicht darüber, dass so viel Zeit bis dahin vergehen wird, dass die Wunde dann längst geschlossen ist. Gerade denkt er an gar nichts. Er blickt auch nicht zurück. Nicht ein einziges Mal wendet er sich um, während er auf dem frischen puderartigen Schnee durch den Garten schleicht. Es gibt keinen Grund, denn er wird niemals wieder zurückkehren. NIEMALS.


Behände steigt er über den Holzzaun. Es knirscht unter seinen Füßen und eiliger als zuvor macht er die nächsten Schritte, gelangt um die Ecke. Ganz ruhig ist die Nacht. Schwarz. Und sie wird für ihn schweigen. Atemluft gefriert vor seinen Augen, Windböen peitschen ihm weiße Flocken ins Gesicht, in der Ferne flackert das Licht einer Straßenlaterne. In diese Richtung muss er gehen. Dem Licht folgen. Licht am Ende eines sehr langen Tunnels. Er würde ja laufen, wenn es nicht so auffällig wäre. Geht er langsam, denkt vielleicht jemand, er führt seinen Hund Gassi. Einen Hund, den er nicht hat, den man nicht sieht. Schutz der Nacht. Das und auch ihn wird niemand erkennen.


„HA! ERWISCHT!"


Die klaren Augen sind nun schreckgeweitet. Nein, nein. Nein, bitte nicht. Er wirbelt herum, beginnt zugleich aber zu laufen, stolpert, fällt um ein Haar. Da aber ist eine helfende Hand, die kräftiger zupackt, als man es für möglich halten mag. Jetzt erst erkennt er ihn, erkennt ihn an der Nasenspitze und auch die eisfarbenen Augen unter dem Mützenbund. „Bist du bescheuert?", zischt er. „Willst du... willst du das ganze Dorf wecken mit deinem Gebrüll?" Eingehend mustert er ihn und auch den großen Rucksack, den er sich auf die schmalen Schultern geladen hat. „Was tust du überhaupt hier? Mitten in der Nacht?"


„Du hast nicht geglaubt, dass ich dich alleine gehen lasse." Er starrt ihn regelrecht an. „Hast du nicht, oder?"


„Ich werd dich nicht mitnehmen."


„Wieso nicht?"


„Du bist noch keine 18." Längst hat er ihm die Hand entzogen, stapft wieder los. Watet durch den Schnee, wohl wissend, dass der andere ihm folgen wird. Schon ist er wieder gleichauf.


„Aber du, oder was?"


„Beinahe. In... fünf Tagen oder so."


„In sechs."


„Auch gut." Er zuckt die Schultern und stapft weiter. „Geh nach Hause."


„Nein." Mehr sagt er nicht. Nur Nein. Und das so bestimmt, dass auch der andere nicht mehr widerspricht. Ohnehin verliert er kein weiteres Wort. Schweigend streben sie dem Ortsausgang entgegen. Es gibt auch nichts zu reden. Sie beide kennen das Ziel, wissen es gibt nur einen Weg, um dorthin zu gelangen. Einer von ihnen hat keine Angst und auch nichts zu verlieren. Der andere ist willens gegen sich selbst und seine Zweifel zu kämpfen und den Freund ins Ungewisse zu begleiten. Dabei könnte er es so leicht haben. Seine Eltern sind beide Mediziner. Einflussreich und wohlsituiert. Den Freund im Stich lassen, kommt nicht in Frage. Zwei Stunden hat er in der Kälte gestanden, auf ihn gewartet und nichts und niemand wird ihn davon abhalten können, diese Stadt zu verlassen. Am allerwenigsten der blonde Sturkopf an seiner Seite.


Und dann kommt alles anders. So wie immer. Ganz plötzlich ist ein Auto dort. Lautlos ist es herangerollt, nicht einmal die Scheinwerfer sind an gewesen. Es ist einfach da. Aus dem Nichts. Wie als wäre es gebeamt worden. Eine Sekunde. Vielleicht keine ganze, dann haben sie beide den silbernen Chevy erkannt. Mag er von Schnee bedeckt sein, das vordere Kennzeichen, das ein Westernsattel und ein Lasso ziert, nicht einmal sichtbar, beide Jungs sind sich sofort sicher, das ist Dannys Wagen. Sie fassen einander am Arm, ziehen mit klammen Fingern an nassem Jackenstoff, stolpern, wispern, raunen etwas und nehmen dann die Beine in die Hand, rennen los. Es wird sie vom Weg abbringen, es wird sie müde machen, aber sie wissen sicher, sie können ihn austricksen, abhängen. So viele schmale Gassen, durch die kein Auto fahren kann und bis Danny herausgesprungen und ihnen nachgelaufen ist, können sie verschwunden sein. Ins Besondere, da sie beide geübte Jogger sind.


„Querfeldein?" Ein Kopfschütteln als Antwort. „Zu viel Schnee?" Ein Nicken. „Okay. Dann... Liberty Hall."


„Du weißt schon wo, falls wir uns verlieren." Jetzt nickt der andere.


Das Auto wird schneller. Schneller als sie. Dann steht es quer vor ihnen auf dem Gehweg. „Zurück!"


Die Fensterscheibe wird heruntergekurbelt. Das Auto wendet. Vorsprung, den sie sich erlaufen ist schnell wieder aufgebraucht. „Einsteigen!"


Der Ältere der beiden Jungs läuft wortlos weiter. „Vergiss es, Danny!", ruft der andere. „Wir sind nicht blöd."


„Ich bring euch nicht zurück."


„Als ob."


„Ich will euch helfen!"


„Glaub ihm kein Wort!"


„Ich glaub ihm kein Wort."


Natürlich nicht. Auch Danny ist klar gewesen, dass sie ihm das niemals abnehmen würden. Er ist erwachsen im Gegensatz zu ihnen und ihre Vorsicht, Ablehnung legitim. „Ich halt jetzt an und ihr steigt ein."


„Nein!"


„Oder ich drück einfach auf die Hupe und weck das ganze Dorf."

Hinter den KulissenWo Geschichten leben. Entdecke jetzt