1. Kapitel

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Das schrille Läuten des kleinen silbernen Weckers riss mich aus meinem Traum. Verärgert schlage ich mit der flachen Hand auf die Matratze. Karens Kopf zuckt bei dem Lärm. Das Murmeln meiner Mitbewohnerin, welches zwischen Decke und Kopfkissen hervor drang, war nicht mehr als ein kratziger Laut.

„Ich hasse Montag." murmelt Karen während sie sich aufsetzt.

„Ich hasse aufstehen." fluche ich und taste nach meinem Waschbeutel. Montags beginnen meine Collagekurse um neun Uhr. Für jemanden der so viel schläft wie ich, ist das eine unmögliche Zeit um aufnahmefähig zu sein.

Ich bin in meinem zweiten Jahr und habe bereits einen gewissen Rhythmus im Collagealltag, doch Montage hasse ich so sehr wie zu Beginn. Im Gegensatz zu den meisten anderen Studenten schlafe ich extrem viel auch ohne völlig betrunken zu sein. Karen, meine charmante Mitbewohnerin, hat Gott sei Dank einen komatösen Schlaf. Für die meisten ist Schlafen schlicht etwas Notwendiges, um fit für die nächste Party zu sein. Für mich ist Schlafen ein Hobby.

Ich weiß wie sich das anhört: als wäre ich unglaublich faul. Aber das bin ich nicht. Eigentlich ist nicht das Schlafen meine Lieblingsbeschäftigung, sondern Träumen, denn ich kann meine Träume bewusst lenken. Ich kann mir nichts Schöneres vorstellen als stundenlang durch Welten zu wandeln die so fantastisch sind, so friedlich, dass sie mir jede Nacht aufs neue den Atem rauben. Meist beginnt mein Traum langweilig. Ein Wald, ein Meer, ein Fluss, ein Fels, dann stelle ich mir die Umgebung vor die ich mir in diesem Moment wünsche. Schmetterlinge, Vögel, Katzen, meine Grandma, meinen Bruder Ben, manchmal auch Karen. Wie durch Zauberhand erscheinen sie in meinem Traum, unterhalten sich mit mir, sitzen schweigend mit mir da, tanzen mit mir.

Meine Traumwelt setzt mir keine Grenzen. Nur den Charakter der Personen kann ich nicht ändern. Wenn ich mir Karen in meinen Traum hinein träume, dann ist es auch Karen die auftaucht, nicht etwa nur ein Bild von ihr. Sie antwortet wie Karen es tun würde, vertritt eine Meinung, welche die wache Karen vertreten würde.

Unter der Dusche erwachen meine Lebensgeister nur langsam. Heute Nacht ließ ich mich auf einem gepolsterten Floß durch einen Urwald treiben. Ich mag die Natur. Als echtes Stadtkind ist das eigentlich sehr eigenartig, aber eigenartig zu sein war schon immer meine Spezialität. Genau wie meine Fähigkeit immer und überall einschlafen zu können. Für unsere Großeltern war das anfangs ein angenehmer Zustand, mit meinem fortschreitenden Alter machte es ihnen dann Sorgen. Doch nachdem mich mehrere Ärzte für völlig gesund erklären, fanden sie sich damit ab, dass ich eben viel schlafe.

Von meinen Träumen habe ich ihnen nie erzählt. Nur mit meiner Traumgranny habe ich darüber gesprochen.

„Ben sagt es ist nicht normal sich an jeden Traum zu erinnern."

Granny, die Füße von dem kleinen Steg  baumelnd, lässt das Wasser mit dem großen Zeh kleine Wellen schlagen.

„Niemand ist normal."

„Ich wäre gerne normal." beschwere ich mich. Meine Zehen reichen nicht zum Wasser hinunter.

Kurz lenke ich meine Aufmerksamkeit aus den Wasserspiegel. Einen Moment später schnappt Granny nach Luft, das Wasser reicht nun ihre Waden hinauf bis zur Kniescheibe. Meine Zehen tauchen in das klare Wasser.

„Warum solltest du normal sein wollen?" will sie wissen.

„Ben ist normal."

„Woher willst du das wissen?"

Weil ich ihn gefragt habe, denke ich, zucke aber nur mit den dürren Kinderschultern.

„War Dad normal?" will ich anstelle einer Antwort wissen.

„Das kann ich dir nicht sagen Kleines." sagt Granny und zieht ihre Beine aus dem Wasser, „Ich bin nur in deinem Traum. Möglich das ein anderes 'Ich' von mir in seinem Traum ist."

„Er kann nicht träumen! Er ist tot." sage ich emotionslos. Ich kann mich nicht an meine Eltern erinnern. Ein Autounfall. Wie gerne würde ich sagen dass ich eine Verbundenheit spüre wenn ich Bilder ansehe. Doch auf den Fotos blicken mich fremde Menschen an. Sie haben Ben und mich sehr geliebt, da bin ich sicher. Genauso sicher wie ich mir bin, dass wir sie liebten. Doch ohne Erinnerungen ist es schwer ein Gefühl aufrecht zu erhalten.

Ich habe versucht meine Eltern in meinen Träumen erscheinen zu lassen, doch es flogen immer nur die Fotos durch die Luft. Ich kann sie mir nicht vorstellen, deshalb habe ich meine Versuche aufgegeben.

„Das ist wahr." sagt Granny traurig. Sie kann sich gut an Dad erinnern.

„Ben sagt es ist komisch sich an jeden Traum zu erinnern." fest schaue ich in Grannys Augen. Ich will keine Reaktion verpassen. Ich will eine Antwort, auch wenn ich keine Frage gestellt habe.

„Er sagt es ist nicht normal das ich bestimmen kann was ich träume." fahre ich fort.

„Er ist vielleicht nur neidisch." sagt Granny nach einigen stillen Momenten.

Ich weiß dass das nicht stimmt – das ist die Antwort der Erwachsenen auf alle möglichen Themen. Die anderen sind immer neidisch. Dabei wäre die ehrliche Antwort: Richtig, du bist nicht normal.

Ich drehe das Wasser von warm auf kalt und japse nach Luft als das eisige Wasser meinen Rücken hinunter rinnt. So schnell ich kann drehe ich an den Rädchen der Armatur bis nur noch einzelne Wasser Tröpfchen auf meinen Kopf platschen. Man persönlicher Akkustand ich nun vermutlich bei achtzig Prozent.

Mehr habe ich selten.

Im Kursraum angekommen steuere ich meinen gewohnten Platz an, neben Thomas McLaroy. Thomas ist ein schöner Mann. Breit gebaut, braune wellige Haare und ein gewinnendes Lächeln. Ich gebe zu, ich habe mich am ersten Tag bewusst neben ihn gesetzt. Und er war mir nicht abgeneigt, denn schon am dritten Tag hat er gefragt ob wir mal einen Kaffee trinken gehen wollen. Das war letzten Montag. Das Date war letzten Freitag. Wir haben uns gut unterhalten, die Kellnerin war neidisch auf meine Begleitung und zum Abschied habe ich einen Kuss auf die Wange bekommen.

Ein rundum gelungenes Treffen. Wir sind bei einem das-machen-wir-bald-mal-wieder verblieben. Mein Herz schlägt ein bisschen schneller als ich ihn erblicke. Er drückt mit einen Kuss auf rechte Wange und fragt nach meinem Wochenende.

„Nicht viel. Karens Eltern waren zu Besuch und ich hatte das Zimmer fast die komplette Zeit für mich alleine."

„Was hast du denn angestellt so alleine."

„Ich habe nackt getanzt und 90iger Songs gesungen." scherze ich.

„Da wäre ich gerne dabei gewesen." Er lässt offen ob sich das auf das nackte tanzen oder das singen bezieht. Ich mag seine unaufdringlichen Zweideutigkeiten.

„Du hast definitiv etwas verpasst."

„Vielleicht lädst du mich nächstes Mal ein."

Weniger zweideutig, ganz eindeutig. Ich nicke nur, denn unser Professor räuspert sich um mit den Unterricht zu beginnen. Ich erzähle ihm nicht dass ich zwei komplette Tage und Nächte im Bett verbracht habe. Mit Schlafen.


** Ich hoffe das erste Kapitel der Geschichte hat euch gefallen, lasst mir euer Feedback da. Danke Nadine **


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