Ruhig und gleichmäßig prasselte der Regen auf das blecherne Dach der kleinen Mietwohnung im westlichen Stadtteil Tokio's - einem der weniger luxuriösen Teile des Viertels welches an Shinjuku angrenzt und nur wenige Gehminuten der Yamanote-Ringlinie entfernt. Stille herrschte in dem kleinen Raum, der gleichermaßen als Wohn- und Essbereich dient. Ein fauliger, schwerfälliger Geruch erfüllte die Luft. Seit Tagen musste in dieser Wohnung nicht mehr anständig gelüftet worden sein. Überall auf dem Boden lagen längst verfaulte Essensreste herum, auf denen sich eine Scharr Fliegen tummelte. Sich türmendes, benutztes Geschirr und schmutzige Wäsche, welches achtlos in die Ecken geworfen wurde. Doch war da noch etwas anderes - etwas Unerklärliches - was in der Luft lag. Etwas, das auf den ersten Blick nicht gleich zu sehen und doch spürbar war...
„Die Frau am Telefon berichtete, dass seit Tagen niemand mehr die Wohnung verlassen hat"Mit langsamen, bedachten Schritten durchquerte der hochgewachsene, uniformierte Mann den schmalen Flureingang, überprüfte dabei jede noch so kleine Ecke. Vor etwa einer Stunde war ein überaus besorgter Anruf in der Polizeizentrale Tokio eingegangen. Eine Nachbarin mache sich Sorgen um das junge Ehepaar aus Wohnung 206. Sonderlich viel konnte die Frau ihm nicht über die Leute berichten. Familie Hisagi sei erst vor wenigen Wochen gemeinsam mit ihrem Sohn in diese Wohnung gezogen. Sehr freundliche und unauffällige Leute mit einem gewissen Alltagstrott. Er verließe jeden Tag um die selbe Zeit die Wohnung während sie zu Hause blieb um sich um den Haushalt und das Kind zu kümmern - nur hin- und wieder verließe die junge Frau die Wohnung um Einkaufen zu gehen. Doch seit über einer Woche habe man weder das junge Paar noch den Jungen nicht mehr zu Gesicht bekommen. Am beunruhigensten sei aber wohl der faulige Geruch, den man nach wenigen Tagen habe wahr nehmen können. Ein Grund mehr, einmal nach dem Rechten zu sehen.
„Ich durchsuch' mal den Raum hier. Schau du, ob's hier vorn noch irgendwas auffälliges gibt!" Mit einer knappen Geste wurde die Tür aufgeschoben – oder es zumindest versucht. Sie klemmte. Offenbar blockierte etwas die Türverrieglung von innen. Argwöhnisch wurde die Braue zusammen gezogen ehe ein wenig mehr Kraft investiert wurde und erneut an dem Türgriff gezogen wurde. Ein hölzernes Knacken ertönte, symbolisierte, dass die Blockade, die sich wohl hinter der Tür befunden haben musste, zerbrach und sich die Tür nun doch geschmeidig öffnen und zur Seite schieben ließ. So tat Aido einen Schritt in den vor ihm in Dunkelheit gehüllten Raum. Mit einer Taschenlampe, die er seitlich am Gürtel trug, sorgte er zumindest für einen kleinen Lichtkegel um sich so einen kleinen Überblick über das Rauminnere zu verschaffen. Jedoch nur, um eben jene Lichtquelle binnen weniger Augenblicke fallen zu lassen. Ein entsetzter Laut entfloh seinen Lippen ehe er zurück und aus dem Raum taumelte. Eine Hand wurde vor den Mund geschlagen um das Erbrochene, was sich in seinem Hals und hinter seinen Lippen sammelte, zurück zu halten.
„Aido?! Was ist los? Hast du...!!! "Mit schnellen Schritten hatte sich sein Kollege Aido genähert. Doch kaum, dass er die Tür erreicht hatte, stieß auch er einen Laut des Entsetzens aus ehe auch er zurück taumelte. Tränen der Übelkeit schossen dem jungen Beamten in die Augen, doch gelang es ihm nicht, die Übelkeit unter Kontrolle zu bringen. So wand er sich mit bebenden Schultern ab, stemmte eine Hand gegen die Wand und begann krampfhaft alles, was er an diesem Tag zu sich genommen hatte, vor sich auf den Boden zu erbrechen. Aido's Blick war unterdessen starr in den spärlich belichteten Raum vor sich gerichtet. Wie eine gebündelte Faust, die nur darauf gewartet hatte, ihren Zorn zu entfesseln, schlug Aido just in dem Augenblick, als er die Tür zu jenem Raum öffnete, der wohl als gemeinschaftliches Schlafzimmer genutzt wurde, ein unerträglicher Schwall Verwesungsgeruch entgegen. Doch noch viel schlimmer als dieser Geruch, der ihm die Luft zum atmen nahm, war der Anblick, der sich ihm in diesem Augenblick bot. Wände und Teppichboden sowie Tatamimatten waren von Blut, winzigen Knochensplittern und ausgetretener Hirnmasse verschmiert. Auf den ausgelegten Futon Matten lagen - übereinander zusammen gesunken - ein männlicher und ein weiblicher Leichnam. Aido's Vermutung nach handelte es sich hierbei wohl um das Ehepaar Hisagi. Tot. Vermutlich Selbstmord. Ihre Hinterköpfe waren durch das Austreten der Kugeln vollkommen zerrissen worden. Die dafür verwendete Handfeuerwaffe befand sich noch in ihren vollkommen verkrümmten Händen. Es dauerte einen Moment, bis der Cop sich aufraffen konnte, seine Übelkeit vollkommen unter Kontrolle gebracht - immerhin war er auf einen solchen Anblick nicht vorbereitet. Er löste sich Wand und betrat den Raum. Langsam tasteten die Augen über das grausige Bild, das sich ihm hier bot. Unterschied es sich - abgesehen von den Leichen - nicht groß von der restlichen Wohnung. Überall fanden sich Essensreste, schmutziges Geschirr und auch benutzte Kleidungsstücke. Hatten die Eheleute vor ihrem Selbstmord noch einen Leichenschmaus abgehalten ehe sie sich das Hirn weg geschossen hatten? Was den Polizisten jedoch stutzig machte und ohnehin viel wichtiger war: es befanden sich nur zwei Leichen in diesem Raum und am Telefon war noch von einer dritten, hier lebenden Person die Rede gewesen.
Wo war der Sohn der beiden? „Minami? Kommst du klar?"Stille herrschte. War sein junger Kollege nun unter diesem ganzen physischen Druck zusammen gebrochen? Das hätte ihm gerade noch gefehlt. Ein leiser Seufzer entwich ihm ehe Aido sich umwand, um nach seinem Kollegen zu sehen – doch erstarrte er mitten in der Bewegung während sein Blick am Türrahmen hängen blieb. Spielten ihm seine Sinne nun einen Streich?
Unter dem Türrahmen konnte er, in einer fürchterlich ungesunden Haltung hockend, eine kleine Gestalt erkennen - Gesicht, Haar und Körper waren von Blut und – wohl eigenem – Unrat stark verkrustet, ebenso die Kleidung, die am Leibe getragen wurde. Starr war der Blick des Jungen, den Aido auf vielleicht gerade einmal drei oder vier Jahren schätzte. Nur hin- und wieder huschten die dunklen Augen, gezeichnet von tiefen, schwarzen Furchen, zwischen den beiden Männern hin- und her während die Finger des Kindes über den Teppichboden strichen. Immer wieder. So, als versuche er, etwas vor sich weg zu schrubben.Minami, der offenbar seine Fassung wieder gefunden hatte, oder aber einfach nichts mehr im Magen hatte, was er noch von sich geben konnte, war an der Wand entlang nach unten gerutscht und hockte nun in seinem eigenen Erbrochenem. Aus weit aufgerissenen Augen starrte er dem Kind entgegen ehe sein Blick an diesem vorbei zu seinem Kollegen glitt, der nur langsam den Kopf schüttelte und deutete ihm, ruhig zu sein ehe er sich dem Jungen zu wand.Langsam, ganz langsam, so als wolle Aido verhindern, dass das Kind einen Schreck bekam, liess sich dieser in die Hocke sinken, den Blick dabei unentwegt auf dem Jungen gerichtet, dessen Finger nervös über den Teppich glitten.„Hey..."Leise und bedacht sprach Aido ihn an, doch reagierte der Junge nicht so recht darauf sondern fuhr weiterhin damit fort, über den Teppich zu reiben. Es wirkte beinah so, als versuche er mit seinen kleinen Händen etwas zu entfernen, was sich tief in die Fasern des Teppichs gefressen hatte. Doch ganz egal, wie sehr sich Aido auch anstrengte, er konnte beim besten Willen nichts erkennen. Ein weiteres Mal, dies Mal jedoch lauter, wenn nicht gar ein wenig energischer, sprach der junge Polizeibeamte den Jungen an, hoffend, das er diesmal von seinem Tun ablassen und auf ihn reagieren würde. Und tatsächlich hielt das Kind inne in seinen Bewegungen und richtete den gekrümmten Oberkörper ein wenig auf, hob den Blick, den es auf Aido richtete während sich seine spröden, eingerissenen Lippen lautlos bewegten.„Hey... es ist alles gut, Kleiner. Mein Kollege und ich sind jetzt hier"Wieder begann Aido, ruhig und besonnen auf das Kind einzusprechen, dabei versuchend, seine Stimme fest und besonnen klingen zu lassend. Immerhin wusste er nicht genau, in welcher geistigen Verfassung sich der Junge vor ihm befand. Doch wenn er ihn sich so ansah, von Kopf bis Fuß verdreckt, fast schon apathisch wirkend, vermutete er stark, dass das Kind zwar keine körperlichen, jedoch seelische Schäden davon tragen würde.„...."„Was sagst du?"„Geht nicht weg..."Erneut hob sich die Braue des Polizisten. Es geht nicht weg? Was genau meinte der Junge denn damit? Vor ihm war doch gar nichts. Die Stelle, die er so energisch mit seinen kleinen Fingern bearbeitete, war, bis auf ein paar kleine Schmutzflecken, vollkommen sauber. Oder war da etwas, das Aido nur nicht erkennen konnte? So wagte er sich doch ein klein wenig näher an den Jungen heran, den Blick auf die Stelle gerichtet, die das Kind so eifrig, so energisch mit seinen Händen bearbeitete. „Geht... nicht weg..."Erneut nuschelte das Kind diese Worte vor sich her, fuhr mit den Fingern weiterhin über den Boden ehe es inne hielt und langsam, ganz langsam den Kopf hob und den Polizisten direkt ansah. Was Aido in den zerbrochenen Augen dieses Jungen versetzte ihm einen Stich mitten in die Brust und die schmerzliche Gewissheit, das sie in diesem Fall viel zu spät gerufen worden waren. „Es tut mir leid..." flüsterte er leise ehe die Arme nach dem Kind ausgestreckt, schützend um um dessen Leib geschlungen wurden kurz nachdem es wieder begonnen hatte, über den Teppich zu reiben. Nein, es würde nicht weg gehen, ganz egal, wie sehr sich darum bemüht wurde. Wie viel Kraft und Zeit auch aufgebracht werden würde, dass hatte Aido nun begriffen. Er hatte verstanden, was genau versucht wurde, aus dem hellen Gewebe zu entfernen. Und er hatte auch verstanden, das nur der Junge allein sehen konnte, was sich dort hinein gefressen hatte. Was dort war. Er hatte es in seinem Blick gesehen...Über eine Stunde war nun bereits verstrichen, seid Aido und Minami die Wohnung der Hisagi aufgebrochen und deren Leichen vorgefunden hatten. Mittlerweile war die angeforderte Spurensicherung sowie ein Gerichtsmediziner eingetroffen, die sich sogleich an die Arbeit machten, die Wohnung sowie die Leichname gründlich zu untersuchen. Denn obwohl alles danach aussah, jedes Indiz darauf schliessen liess, als haben die Eheleute ihrem Dasein selbst ein Ende gesetzt, so wurde Aido das Gefühl nicht los, dass diese Wohnung nicht etwa der Schauplatz einer Familientragödie war – sondern ein Tatort. Und wenn sich Aido auf eines Verlassen konnte dann auf sein Bauchgefühl!„Hast du irgendjemanden erreicht?" Nur kurz wand sich der Blick Aido's seinem Kollegen zu, nachdem er den Jungen wie einen Wachhund beobachtet hatte. Nachdem der Krankenwagen eingetroffen und das Kind gründlich durchgecheckt und als - zumindest körperlich - vollkommen gesund - an ihn zurück gegeben hatte, hatte sich der Polizist seiner angenommen und versuchte nun, ihn auf irgendeine Art und Weise zu beschäftigen während seine Kollegen von der Kriminalabteilung damit beschäftigt waren, die Wohnung, in der das Kind zu Hause gewesen war, auf den Kopf zu stellen. Doch stellte sich diese Aufgabe als schwieriger heraus, als zu Anfang gedacht. Denn wie schon bei ihrer Begegnung im Schlafzimmer wirkte der Junge eher abwesend. Wunderte es ihn? Nein, eigentlich nicht. Wer wusste schon, was er gesehen hatte. Das prägte ein Kind. Ein Leben lang.Minami, an den die Frage gerichtet gewesen war, schüttelte nur den Kopf ehe er dann fast schon betrübt die Schultern hob „Die Mailbox bei der Tante. Die Sekretärin beim Onkel. Bei der einen Cousine ging der Freund dran. Bei..."„Lass gut sein!"Aido brachte Minami mit einer raschen Geste zum schweigen. Das tat ja weh, ihm weiter zu zuhören!„Kurz: der Junge hat zwar einen Haufen Verwandte aber niemand sieht es als seine Pflicht, ihn in seine Obhut zu nehmen - ist das in etwa richtig?"Sein Kollege seufze nur tief, zuckte dann abermals mit den Schultern ehe auch sein Blick auf das Kind fiel, das damit begonnen hatte, mit dem Finger Kreise in den Staub zu ziehen - überraschend symmetrische Kreise sogar!„So in etwa kannst du es auffassen, japp"Ein tiefes Schnauben folgte ehe Aido energisch den Kopf schüttelte.„Allerliebst. Das bedeutet, er muss in ein Heim..."Kurz wanderte der Blick des Mannes zu dem Jungen, der zu seinen Füßen hockte und nun statt Kreise Linien in den Sand zeichnete. Abermals entwich ihm ein leises Seufzen ehe er sich mit den flachen Händen auf die Oberschenkel klopfte und sich dann erhob. Von dem klatschenden Geräusch aufgeschreckt, wurde das Zeichnen der Linien unterbrochen, der Kopf gehoben und zu dem Mann aufgeblickt, ehe sich der Kopf des Kindes leicht seitlich neigte, der Ausdruck in den dunklen Augen dabei fragend, verwirrt. „Dann fahr ich ihn da hin!" Nein, der junge Polizist war davon ganz und gar nicht begeistert! Doch was sollte er anderes tun? Den Jungen zu sich nehmen? Ihn adoptieren? Das konnte er nicht! Er war allein. Unverheiratet! Er hatte nicht einmal eine Freundin geschweige denn Erfahrung mit Kindern und noch dazu ein Cop! Das Kind wäre den ganzen Tag allein und das die ganze Woche über. Nein, er war besser so. Bestimmt. Bestimmt...
Doch irrte er sich mit diesem Gedanken.
Es verging nur eine Woche, nachdem der Junge in das Kinderheim Fujinosono in Ichinoseki in Tokio einzog, als Aido auch schon den Anruf der dort leitenden Schwester erhielt. Das Kind sei nach einem hässlichen Streit mit einem anderen Jungen mitten in der Nacht in die Innenstadt verschwunden. Zwar habe man schon die Polizei verständigt, doch fehle wohl jede Spur von dem Jungen. Auch die Suche Aidos blieb ohne jeglichen Erfolg. Vielleicht, weil er nicht gefunden werden wollte? Möglich, dass der Kleine es ihm übel nahm, dass er ihn einfach in dieses Heim abgeschoben hatte. Aber wer weiß, vielleicht begegneten sie sich ja eines Tages wieder.
Er und Hisagi Inami.
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Grauzone
Paranormal『 Die Eltern des jungen Hisagi Inami begehen aus unerklärlichen Gründen Selbstmord als dieser gerade einmal 5 Jahre alt ist und machen diesen damit zur Vollwaise. Keiner der unzähligen Verwandten sieht sich nach dem tragischen Tod in der Verantwortu...