Kapitel 9

385 17 0
                                    

ROSE

Meinen ersten Arbeitstag nach zwei Wochen im Krankenhaus konnte man mit einem Wort beschreiben: Scheiße.

Auf dem Weg nach Hause fuhr ich eine sehr lange Strecke. Ich dachte nach, wie es gut es mir gehen würde, wenn ich gar nicht Psychiaterin wäre und mich nicht mit diesen Leuten umgeben musste, die Tobsucht, ADHS, PTSD oder sonst noch was hatten.

Ich fuhr nicht direkt nach Hause... Nein, ich machte einen sehr großen Schlenker durch London Mayfair und dann zum Big Ben. Ich parkte Natty ein paar Hundert Meter abseits von der Westminster Bridge und lief an der Seite, die für die Fußgänger bereitgestellt war, entlang.

London Westminster Bridge war eines der Wahrzeichen unserer wunderschönen Stadt, aber im Moment bewunderte ich nur ihre Höhe. So schön, doch so gefährlich. Ich mochte sie sehr.

Und genau in diesem Moment wunderte es mich, wie es wäre, wenn ich gegen die Brüstung der Brücke rennen, mich kopfüber hinunter schmeißen und in das kalte Wasser der Themse fallen würde. Nur um danach wieder aufzutauchen, um mich von einem der großen Lastschiffe überfahren zu lassen und dann einen grausamen Tod zu sterben, den ich irgendwie verdient hatte.

Ich wurde aus meinen Gedanken gerissen, als mein Handy in meiner Gesäßtasche meiner Jeans vibrierte.

Adrik war am anderen Ende der Leitung, ich überlegte, ob ich rangehen oder mein Handy in die Themse werfen sollte und mich gleich mit.

Ich entschied mich für das Erste, denn ich hatte keine Lust darauf, den Leuten, die ich im nächsten Leben wiedertraf, erklären zu müssen, wie ich gestorben war.
Schade, ich wäre jetzt gerne im Himmel angekommen.
Nein! Hölle wäre mir lieber gewesen.

Engel und Dämon in mir fingen einen Streit an, während ich den grünen Button auf meinem Handy drückte.
»Adrik?«, ich hielt mir den gebrochenen Bildschirm an mein Ohr. Wie oft hatte ich mein Handy schon fallen lassen? 1000 Mal? 2000?

»Heyyyyy, meine Lieblingsschwester.... was machst du so?«, hörte ich am anderen Ende der Leitung. Er wollte was von mir. Definitiv.
Normalerweise sprachen wir uns an, wie zwei behinderte Penner, die zu viel gesoffen hatten... 'Eeeh, Arschloch!' - 'Bruda, was willst du?!'
»Bist du high?«, nein, Adrik konnte nicht high sein, er war doch mitten in seiner Schicht.

»Nein, nur einsam. Cher hat die Nachtschicht.«, tja, das war der Nachteil, wenn beide Partner Ärzte waren und in unterschiedlichen Schichten arbeiten.

»Ist Cher nicht schon in Elternzeit?«, fragte ich etwas verwirrt. Dr. med. Cheryl Haynes-Kenney war meine Schwägerin und schwanger.

Und sie war meine beste Freundin. Wir hatten uns während des Medizinstudiums kennengelernt, wo ich zu meiner ersten Vorlesung zu spät gekommen war und der Platz neben ihr der einzige freie war. Ab dann waren wir unzertrennlich.

»Ja, sie arbeitet nur noch bis Samstag, weil es ihr so gefällt, Leute aufzuschlitzen, bevor sie dann zwei ganze Jahre darauf verzichtet.«, in seiner Stimme hörte ich einen Hauch von Ironie, bevor er dann leise lachte.
Cher war eine gynäkologische Chirurgin und Geburtshelferin und Kaiserschnitte gehörten zu ihrem Leben dazu.
»Und warum rufst du an? Ich bin auch einsam.«, gab ich zu.

»Weil ich mit dir reden möchte. Kommst du bitte vorbei? Wir sind bei Mama und Papa zu Hause.«, das "Bitte" hätte er sich sparen können. Es war nämlich keine. Es war ein: "Komm jetzt rüber, sonst komm ich bei dir vorbei, entführe dich, verfrachte dich in meinen Kofferraum und setze dich eigenhändig in ein Verhör."

»Okay, wann? Wie wär's mit niemals oder sobald ich im Himmel aufwache - in 100 Jahren vielleicht?«, ich gab ihm zwei Möglichkeiten, beide, die es nicht schaffen würden.

»Wie wär's jetzt? Sonst komm ich bei dir vorbei, entführe dich, verfrachte dich in meinen Kofferraum und setze dich eigenhändig in mein Verhör.«, ich wusste es, ich verdrehte die Augen. Mein ganzes Leben beruhte darauf, Adrik als diesen einen (und einzigen) Bruder zu haben, der über beschützerisch allen seinen Schwestern gegenüber war.

»Okay, ich komm vorbei.«, sagte ich und legte auf.
Wenn ich mich jetzt von der Brücke schmiss und Leute zuschauen würden, würde es aussehen, wie als hätte ich eine schlechte Nachricht bekommen.

Ich schüttelte den Kopf und schob den Selbstmordgedanken in die hinterste Ecke meines Gehirns.

Ich lief runter von der Brücke und zu meinem Auto. Ich startete den Motor und fuhr an der Themse entlang auf die Autobahn und in Richtung Greenwich.

Im Radio lief Classic-FM und die Berliner Philharmoniker spielten Beethovens 5. Symphonie unter der Leitung von Herbert von Karajan.

Ich summte die Musik leise mit. Klassische Musik machte mich auf eine seltsame Art fröhlich und beruhigte mich. Aber wenn man mich fragte ob ich zur Arie der Königen der Nacht mitsingen würde, ich würde die Arie viben wir den neusten Taylor Swift Song.
Es war eine angenehme, halbstündige Fahrt zu meinem Elternhaus. Ich hätte zehn Minuten weniger gebraucht, wären da nicht überall Blitzer gewesen.

Dies war eines der Dinge, die mich an den Autobahnen in London nervte. Alle 1000 Meter gefühlt, gab es entweder Zoll oder die Geschwindigkeit von einem wird gemessen. Und wenn man die vorgegebene Geschwindigkeit übertraf, bekam man im Laufe der Woche eine dreistellige Rechnung nach Hause geschickt.

Ich verdrehte die Augen nur bei dem Gedanken, als ich die Ausfahrt nach und in das Wohnviertel bog. Die Häuser sahen alle gleich aus. Alle hatten weiße Wände, einen kleinen Vorgarten mit Blumen überall, eine Garage und einen übergroßen Garten hinter dem Haus. Die Leute, die hier lebten, waren aber allesamt nett.

Das Haus meiner Eltern war inmitten von vielen anderen Häusern. Ich parkte ein paar Häuser entfernt, da wo ich Platz gefunden hatte und stieg aus.

Seven Years And Many MoreWo Geschichten leben. Entdecke jetzt