Samstag, neunter April

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Heute ist mein Geburtstag. Ich mag keine Geburtstage, ganz be-sonders nicht meine eigenen. Dann muss ich so tun, als wäre ich glücklich, als freue ich mich über die Gäste und Geschenke. Dann muss ich so tun, als wäre ich froh darüber, dass ich existiere, obwohl ich das definitiv nicht bin. Ich werde heute achtzehn. Eigentlich wollte ich heute sterben. Ich habe mir schon lange vorgenommen, am Tag meiner Volljährigkeit zu sterben. Aber hier bin ich – lebendig wie eh und je.

Die Gäste, das heisst, meine Mutter und meine Grosseltern, kommen in zwei Stunden. Genug Zeit, um noch kurz in die Stadt zu fahren. Schliesslich bin ich jetzt achtzehn und kann mir kaufen, was immer ich will. Ich gehe in einen Kiosk und frage nach einer Packung Zigaretten und einem Vodka. Ich muss nicht mal meinen Ausweis zeigen. Eine totale Verschwendung, dass ich bis heute gewartet habe. Zufrieden stecke ich die Dinge in meinen Rucksack und laufe zurück zur Bushaltestelle. Dort angekommen zünde ich mir meine erste Zigarette an. Nicht die erste in meinem Leben, geraucht habe ich schon öfters, seit ich fünfzehn war, aber die erste von meiner ersten eigenen Packung. Ich geniesse das Gefühl, dass der krebserregende Stoff in mir hinterlässt. Mit jedem Zug fühle ich mich ein wenig näher an meinem Ziel, tot zu sein.

Zurück zu Hause lege ich mich in mein Bett. Mein Vater ist mit meiner Schwester unten. Ich habe immer noch eine halbe Stunde übrig. Diese nutze ich, um mich hübsch zu machen. Ich stehe wider-willig auf und suche mir Kleider raus. Ich entscheide mich für einen schwarzen Jupe kombiniert mit einem lila Shirt. Als ich mich umgezogen habe, gehe ich ins Bad und flechte meine blonden Haare zu zwei Zöpfen. Ich betrachte mich selbst im Spiegel und beschliesse, dass ich akzeptabel aussehe. Ich werde mich selbst vermutlich niemals schön finden, aber akzeptabel ist ein Anfang.

Ich gehe nach unten. Annika kommt mir entgegen gestürmt und drückt mich. «Happy Birthday, Emilie.» Mein Vater ruft mir seine Gratulationen aus der Küche zu. Ich bereue, zu ihnen gegangen zu sein. Ich will nicht an meinen ursprünglichen Todestag erinnert wer-den. Aber da komme ich heute wohl nicht drumherum. Ich bedanke mich deshalb höflich und drehe mich dann um, um eine rauchen zu gehen. Mein Vater weiss, dass ich schon öfters geraucht habe, also hat er kein Problem damit. Oder er hat ein Problem damit, aber ist anständig genug, das für sich zu behalten. Annika besteht darauf, mitzukommen, also ziehe ich mir neben ihr meine Schuhe an und wir gehen gemeinsam zur Tür raus. Draussen ist es nass und kalt – typisches Aprilwetter. Ich zünde mir eine Zigarette an und setze mich auf unsere Gartenbank. Annika setzt sich neben mich und ist ganz still. «Alles okay?», frage ich sie. «Dir geht es nicht gut, oder?», lautet ihre Antwort, die mich etwas aus der Bahn wirft. «Darüber musst du dir keine Sorgen machen. Mir geht es gut genug.» Annika weiss, dass das eine Lüge ist, aber sie bleibt ruhig und lehnt ihren Kopf gegen meine Schulter. Annika ist einer der einzigen Gründe, weshalb ich bis zu meinem achtzehnten Geburtstag gewartet habe. Aber ich will nicht länger warten, kann nicht länger warten, jeder Tag ist eine solch gros-se Herausforderung, dass ich nicht weiss, wie ich es noch viel länger schaffen soll, am leben zu bleiben. Annika ist sehr feinfühlig und ich weiss, dass es sie kaputtmachen wird. Ich will es ja versuchen, aber meine Kraft ist aufgebraucht.

Es klingelt an der Tür. Es ist meine Mutter. Ich habe kein besonders gutes Verhältnis zu ihr. Hatte ich noch nie. Annika war immer ihre Lieblingstochter, ich war immer die Enttäuschung. Ich habe kein Problem damit, ehrlich, ich habe eher ein Problem damit, dass sie bei jedem kleinen Fehler unsererseits handgreiflich wurde. Sie war über-fordert, sagt mein Therapeut. Dann hätte sie keine Kinder haben sollen, lautet meistens meine Antwort.

Ich bitte sie höflich hinein und wir setzen uns an den Küchentisch. Meine Mutter hat Kuchen und ihren Freund mitgebracht. Ich mag ihren Freund. Er war von Anfang an total freundlich. Es tut mir bloss leid für ihn, dass er mit dieser Furie zusammen ist. Tut mir leid, so sollte ich nicht über sie reden. Aber manchmal überkommt es mich. Niemals mehr vor Annika, denn das endet immer im Streit. Sie steht vollkommen auf Mamas Seite, sie kann sich an nichts Negatives erinnern. Das ist okay für mich. Es ist wahrscheinlich besser für sie.

Meine Grosseltern sind mittlerweile auch da. Mein Grossvater hat Brot gebacken. Das tut er jedes Jahr an meinem Geburtstag. Ich um-arme beide und gebe ihnen je einen Kuss auf die Wange.

Wir sitzen gemütlich zusammen, essen Kuchen und trinken Tee. Mir ist eigentlich gar nicht danach, ich würde mich lieber in meinem Zimmer verkriechen. In mir staut sich eine Unbehaglichkeit an, ich will schreien, aber ich habe die Energie dazu nicht, ausserdem darf ich mir nichts anmerken lassen. Ich höre die Leute reden, lachen, Gläser klirren, Geschirr scheppert. Stühle werden umhergeschoben, Servietten werden zerknüllt, sie rascheln sachte. Ich höre zu viele Dinge gleichzeitig, das verwirrt mich, ich spüre eine Überforderung in mir, die durch die Reizüberflutung aufgebaut wird. Dabei sind wir doch bloss sieben Menschen im Raum. Ich beginne, mich möglichst unauffällig von meinem Stuhl zu erheben, um kurz ins Badezimmer zu gehen. Weg von dem Lärm, weg von der Heiterkeit. Weg von alldem, was ich nicht bin und doch gerne wäre. Vielleicht werde ich nie in der Lage sein, so zu fühlen wie die Menschen hier. Dabei weiss ich doch gar nicht, was in ihnen vorgeht. Vielleicht ist ihnen genauso unwohl wie mir, vielleicht wollen sie gar nicht hier sein. Vielleicht wollen sie mir gar nicht zusehen beim Älterwerden, vielleicht wollen sie gar nicht feiern, dass ich es ein weiteres Jahr geschafft habe. Ein leises Schuldgefühl macht sich in mir breit, sie sind alle nur wegen mir hier, und alles was ich tue, ist schlechte Stimmung zu verbreiten. Es kann sein, dass ihnen das gar nicht auffällt, vielleicht trübe ich ihre Laune gar nicht und bilde mir das bloss ein. Ich schliesse die Badezimmertür hinter mir, dämpfe damit die Geräusche und starre mein Spiegelbild aus. Mein Blick sagt überhaupt nichts aus, ich wirke, als wäre nichts von mir übrig, als wäre ich nicht mehr als eine leblose Hülle. Eine sanfte Träne löst sich aus meinem Augenwinkel, eine weinende, gebrochene Prinzessin sieht mir entgegen.

Es ist zweiundzwanzig Minuten nach elf. Nachts. Ich fühle mich leer. Ich will weinen aber kann nicht. Ich bin zu schwach, um meinen Emotionen freien Lauf zu lassen, ich bin zu kraftlos, um mir selbst einzugestehen, wie es mir geht. Ich setze mich in meinem Bett auf und drehe meinen Kopf so, dass ich in den Spiegel sehe. Meine blonden Haare stehen nach allen Seiten ab, sie wären noch stets geflochten, kämpfen sich jetzt allerdings aus der Struktur. Ich stehe auf und öffne meine Zimmertür, möglichst ohne ein Geräusch zu verursachen. Ich schleiche durch den Flur zu Annikas Zimmer. Ihre Tür ist bloss ange-lehnt, ich drücke sie vorsichtig noch einen Spalt auf, um Annikas re-gelmässigem Atem zu lauschen, sie schläft tief und fest. Ich schliesse meinen Augen für ein paar Sekunden und ziehe dann die Tür wieder zu. Ich gehe zurück in mein Zimmer, greife nach meinem Schlüssel und schliesse ab. Ich lasse mich langsam an der Tür heruntergleiten, bis ich am Boden sitze. Ich presse meine Handballen gegen meine Augen und fasse damit unbewusst den Entschluss, mir wehzutun. Wie in Trance taste ich im Regal neben mir nach dem kleinen, unscheinbaren Kästchen, das gefüllt ist mit zehn Rasierklingen, die ich grundsätzlich nicht besitzen sollte. Mein Kopf weiss, dass es dumm ist, ich weiss, dass es dumm ist, aber irgendwie kann ich der Versuchung nicht widerstehen. Ich packe eine Klinge aus und starre sie einen Moment reglos an, sie zieht mich in ihren Bann, ich bewundere sie, sie ist so unauffällig wunderschön, makellos, aber ihr Nutzen bei mir ist grausam. Ich setze sie sanft, fast schon liebevoll, auf meine Haut am Unterarm und ziehe sie behutsam nach unten, im Wissen, dass mich das wieder mehrere Wochen zwingen wird, nur langärmlige Oberteile zu tragen. Dieser Gedanke macht mich wütend, ich weiss nicht wo-rauf, ob auf mich, ob auf die Welt, oder ob auf die unbedeutende Schönheit in meiner Hand, ich habe keine Energie dazu, mich ständig zu verstecken, und doch lasse ich mir selbst keine Wahl, denn ohne diese beschissene Lösung müsste ich mehr verdecken als meine Arme. Es würde noch anstrengender, mein inneres Monster zurückzuhalten, denn es ernährt sich von meinem Schmerz, wenn es hungrig ist wird es laut und dringt nach aussen. Die Schnitte vermehren sich, mein Blut löst sich aus ihnen, den Überblick über die Menge habe ich verloren. Endlich kann ich kühle Tränen an meinen Wangen spüren. Ich lege die Klinge neben mir auf den Boden und nehme ein Taschentuch, um das Stoppen der Blutung zu unterstützen.

Es ist dreiundzwanzig Minuten nach zwölf. Nachts. Mein Geburtstag ist vorbei. Das Blut hat aufgehört, aus meinen Verletzungen zu flies-sen. Ich habe gestoppt, zu weinen. Ich bin jetzt achtzehn. Achtzehn-jährige Mädchen vergeuden keine Tränen, flüstere ich mir selber zu und glaube mir kein Wort.

Bis die Sonne untergehtWhere stories live. Discover now